Fifill
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In einem von mir begonnenen Thread ist ein engagierter bis verbissener Disput über die wissenschaftliche Methodik bei der Untersuchung von Geschlechterrollen entstanden (siehe hier). Da die entstandene Diskussion den Themenrahmen des Ursprungs-Threads sprengt, sich aber m.E. um einen wesentlich Knackpunkt bei der Betrachtung von Geschlechterrollen dreht, schlage ich vor, die Diskussion in diesem neuen Thread fortzusetzen. (Ein weiterer Grund ist, dass ich den Vorwurf, meine (Gegen-)Argumentation sei "polemisches Geschwurbel" mit "Bildzeitungs-Niveau" so nicht auf mir sitzen lassen möchte. 8o ) Falls ein Akademiker mit Erfahrung im Bereich der wissenschaftlichen Methodik hier mitliest, wäre ich sehr dankbar für Hinweise hinsichtlich der methodischen Korrektheit der vorgebrachten Argumentation (meiner eigenen genauso wie der meiner Diskussionspartner). Hinweis an alle Zuschauer und Freunde des akademischen Schlamm-Catchens: Popcornkrümel auf dem Boden dieses Threads müssen vom Verursacher selbst aufgefegt werden. Ich versuche mal kurz und knapp die Schritte zusammenzufassen, in denen sich die bisherige Diskussion entwickelt hat. (@Hendrik1975: Korrigiere mich bitte, wenn ich dabei etwas unzutreffend wiedergeben oder versehentlich etwas auslassen sollte.) Ausgangspunkt war die folgenden Behauptung: Hendrik: Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich. Ilka (Fifill): Auf welcher Basis kommst du zu der Aussage, Crossdressing und/oder Transgender sei für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich? H.: Das Prinzip der größten Wahrscheinlichkeit besagt, dass ein frühmittelalterlicher skandinavischer Mann in Frauenkleidung nicht der gesellschaftlichen Norm seiner Zeit und seiner sozialen Gruppe entsprach, und deswegen mit Nicht-Akzeptanz und Ausgrenzung zu rechnen hatte. Dies hatte in der damaligen Zeit wesentlich gravierendere Konsequenzen als heute, da der Einzelne zum Überleben in viel größerem Maße auf die Gruppe angewiesen war. I.: Die von dir als wahrscheinlich angenommene, ablehnende Reaktion der Gruppe auf einen Mann in Frauenkleidung beruht auf der Sichtweise unseres binären Geschlechtermodells, in dem außer den beiden binären (m/w) alle weiteren Geschlechtsvarianten außerhalb der Norm liegen. Es gibt jedoch viele Beispiele von Kulturen, in denen 3 oder mehr Geschlechterrollen existiert haben und z.T. bis heute existieren. In vielen dieser Kulturen gibt die 3. Geschlechtsrolle Menschen einen anerkannten Platz in der Gesellschaft, bei denen "***" und "Gender" nicht übereinstimmen. In solch einem Geschlechtermodell bedeutet Crossdressing also nicht automatisch, dass man aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird. (Diesen Zusammenhang habe ich im Original-Thread möglicherweise nicht hinreichend ausführlich formuliert.) Nachträgliche Ergänzung zu diesem Punkt der Diskussion: Die Frage an dieser Stelle lautet: Auf welcher Basis glaubst du annehmen zu können, dass ein binäres Geschlechtermodell die wahrscheinlichste Möglichkeit ist? H.: Das klassische (biologische) Geschlechtermodell der Natur ist ein binäres. Bei einer unbekannten Kultur, in der zwei biologische Geschlechter vorherrschen, geht man bis zum Beweis des Gegenteils von der einfachsten Erklärung aus. Zwei biologische Geschlechter, ergo zwei Geschlechterrollen. Die darüber hinaus gehende Definition von weiteren Geschlechtern bzw. Geschlechterrollen setzt einen bewussten schöpferischen Akt eines Individuums mit Intelligenz und Ich-Bewusstsein voraus. Deswegen muss die Schlussfolgerung nicht lauten 'beweise mir, dass auch die Kultur der Wikinger der Norm entsprach', sondern genau umgekehrt. I.: Die Argumentation aufgrund der biologischen Geschlechterstruktur der Spezies Mensch greift zu kurz angesichts der Komplexität des Phänomens der Geschlechterrollen, welches weit über die biologischen Aspekte hinausgeht. Grundsätzlich sind Geschlechterrollen immer ein Gedankenkonstrukt der jeweiligen Gesellschaft, mit der diese die Realität in der ein oder anderen Weise interpretiert. Nachträgliche Ergänzung zu diesem Punkt der Diskussion: die Forderung an dieser Stelle muss nicht lauten 'beweise mir, dass auch die Kultur der Wikinger der Norm entsprach', sondern 'beweise mir, dass das binäre Geschlechterkonzept die Norm ist'. An diesem Punkt haben wir dann glaube ich angefangen, uns im Kreis zu drehen und die schon vorgebrachten Argumente zu wiederholen. Fortführung der Diskussion Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass ein binäres Geschlechtermodell nicht als die Norm angenommen werden kann. Neben den schon aufgeführten Beispielen von alternativen nichtbinären Geschlechtermodellen [Siehe u.a. hier – Quelle Wikipedia], möchte ich dazu nun einige wesentliche Punkte aus dem Wikipedia-Artikel über Geschlechterrollen zitieren. (Wer glaubt, ich hätte diese aus dem Zusammenhang gerissen, muss den Artikel wohl oder übel selber lesen und es mir nachweisen. ) "Heute wird soziologisch und psychologisch zunehmend Geschlecht und Gender nicht mehr gleichgesetzt, um die kulturell und gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen von den biologischen Gegebenheiten zu unterscheiden." "Bisher sind keine Kulturen ohne Geschlechterrollen bekannt. Sie sind je historisch entstanden und einem ständigen Wandel unterworfen; lediglich die unterschiedlichen biologischen Rollen von Frauen und Männern bei der Fortpflanzung wurden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht in Frage gestellt." "Der kulturelle Aspekt der Geschlechtsrollen ist sehr breit gefächert. Auch wenn Haupttendenzen erkennbar sind, sind doch fast alle Möglichkeiten der kulturellen Aufgabenteilung irgendwo und irgendwann praktiziert worden." Einwurf: An dieser Stelle ist von 'Haupttendenzen' die Rede, bei denen man vermuten kann, dass auch das binäre Geschlechterkonzept darunter fällt. 'Haupttendenz' ist aber weit weg von 'Norm' und ganz gewiss nicht damit gleichzusetzen. "Umgangssprachlich wird weitgehend die Bezeichnung „Geschlechterrolle“ verwendet, seltener „Geschlechtsrolle“. Damit geht meist ein wenig differenzierteres Konzept von Geschlecht als biopsychosozialer Kategorie sozialer Ordnung und sozialer Differenzierung einher. Teilweise sind dabei differenziertere Fachbegriffe nicht nur unbekannt, sondern wirken für die eigene Identität bedrohlich und werden abgelehnt. Im Vergleich zu den mittlerweile hoch differenzierten Fachbegriffen erscheinen auf das Geschlecht bezogene Bezeichnungen der Alltagssprache oftmals als unterkomplex oder als „naive, simplifizierende Vorstellung von Geschlecht als naturhafte, unveränderliche, an-sich-so-seiende Tatsache jenseits sozialer, kultureller und spezifisch historischer Bedingtheiten“ (Hark/Villa 2015)." Mit diesen Grundaussagen zum Begriff und Phänomen der Geschlechterrollen sehe ich die Annahme hinreichend widerlegt, der zufolge das binäre Geschlechterkonzept die "Norm" und damit am wahrscheinlichsten sei. Was bedeutet das nun für die Untersuchung der Geschlechterrollen einer fremden Kultur, deren Geschlechtermodell sich nicht aus den gleichen Wurzeln entwickelt hat wie das unsrige? Da es bei der Entwicklung von kulturspezifischen Geschlechtermodellen offenbar keine 'Norm' gibt, muss ich zunächst einmal alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, bis ich ausreichend Indizien aus der jeweiligen Kultur gefunden habe, um bestimmte Möglichkeiten als wahrscheinlicher als andere einzustufen. Hinsichtlich des europäischen Mittelalters sehe ich diese offene Herangehensweise insbesondere für all jene Kulturen als dringend angebracht, die sich nicht aus der römisch-griechischen und der jüdisch-christlichen Tradition heraus entwickelt haben. (In diesen beiden Strömungen sehe ich den Ursprung unseres heute vorherrschenden binären Geschlechterkonzeptes.) Dies trifft aus meiner Sicht insbesondere auf die vorchristlichen Kulturen germanischen und keltischen Ursprungs zu, zu denen u.a. auch die im wikingerzeitlichen Skandinavien gehören. Ich wünsche mir bei der Diskussion von kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene im Mittelalter ein ähnlich hohes und wissenaftsbasiertes Niveau wie bei den 'A'-Diskussionen mit Blick auf die damalige Sachkultur. Mit freundlich-frechem Grinsen Ilka