Hendrik1975
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Wenn ich den verlinkten Artikel recht interpretiere, deuten die Grabbeigaben (auf dem Bild sind u.a. paarige Oval-Fibeln zu erkennen) jedoch auf einen "wikingerkulturellen" Hintergrund hin. "Wikingerkulturell" im Sinne der wikingerzeitlichen Kultur in Dänemark, Norwegen und Schweden - gegenüber der völlig anderen Kultur der Ureinwohner Finnlands und Nordskandinaviens. Aus letzterem - ur-finnischen - Kontext scheint die Person jedoch nicht zu stammen.Eine finnische Kriegerin war vor allem auch nie ein Wikinger.
Dass paarige Ovalfibeln auch in der baltischen Tracht der damaligen Zeit üblich waren, war mir bislang nicht bekannt. Tatsächlich habe ich erst vor kurzem gelesen, dass paarige Ovalfibeln ein charakteristisches Merkmal der wikingerzeitlichen Frauentracht waren, welches in dieser Form nur im skandinavischen Kulturkreis vorkam: "Oval brooches were normally worn in pairs (usually, though not always, matching) as part of the distinctive costume worn only by Scandinavian women at that period, and are thus considered a marker of Scandinavianness as well as of femaleness." Quelle: "The Viking Diaspora", Judith Jesch Daher mein "Schnellschuss". Dazu muss ich dann wohl nochmal eingehender recherchieren...Diese Fibeln sind in der finnischen Frauentracht durchaus üblich, unterscheiden sich aber in Aufbau und Form deutlich von den skandinavischen Ovalfibeln. Der überwiegende Teil Finnlands zählt übrigens auch gar nicht zu Skandinavien, sondern zum Baltikum, besonders eben der Süden. Somit ist das auch eben keine wikingerkulturelle Tracht, sondern dem Bild nach zu urteilen eine baltische.
Das Problem mit dem Begriff "Wikinger" ist, dass er mehrdeutig verwendet wird. Ganz grob gesagt können damit - in einem allgemeineren Sinne - all jene Menschen gemeint sein, die dem Kulturkreis im wikingerzeitlichen Skandinavien entstammen, oder - in einem spezielleren Sinne - aus Skandinavien stammende Seekrieger und Piraten/Plünderer, abgeleitet von der Tätigkeitsbeschreibung "auf Wiking gehen" (wobei "Wiking" in etwa mit "Plünderfahrt" übersetzt werden kann). Auch hier im Forum wird der Begriff in beiden Bedeutungen verwendet, so geht es im Bereich "Die Wikinger" ja mitnichten ausschließlich um Seekrieger und Plünderer, sondern auch um die friedlicheren Aspekte dieses Kulturkreises (bei dem es sich m.E. doch um ein homogeneres Gebilde als ein bloßes "Gemisch von Kulturen" handelt). Ich versuche das Problem meist dadurch zu umgehen, dass ich statt von "Wikingern" im oben beschriebenen allgemeineren Sinne von "Menschen aus dem [Kulturkreis im] wikingerzeitlichen Skandinavien" spreche - was aber auch keine völlig eindeutige Umschreibung ist, da in Skandinavien zu jener Zeit ja auch noch andere Kulturen existiert haben, wie z.B. die der Sami (und darüberhinaus der Begriff "Skandinavien" je nach Definition mal nur Norwegen und Schweden und dann wiederum darüber hinaus noch Dänemark, Finnland und ggf. sogar noch die Faroer Inseln und Island umfassen kann). Eine völlig astreine Bezeichnung habe ich bislang noch nicht gefunden. Und wenn ich nicht derart umständlich formulieren möchte, bediene ich mich letztlich dann doch oft wieder des Begriffes "Wikinger" - wohlwissend (und ggf. darauf hinweisend), dass es sich um eine neuzeitliche und vereinfachende Bezeichnung handelt. Für den Veröffentlicher eines Artikels kommt dann fraglos auch noch der "Werbeeffekt" hinzu, den der Begriff "Wikinger" heutzutage hat - "Lies mich! Hier geht's um WIKINGER!" :wiki4ich wollte gerade nachfragen, so wie ich es verstehe ist Wikinger eine Art Berufsbezeichnung und "DIE" Wikinger setzen sich aus einem Gemisch von Kulturen zusammen ? Auch finde ich es schwer das Grab einer besonderen Person zu deuten. Die Ausname ist halt nicht die Regel.
Danke für diesen sachkundigen und aufschlussreichen "Klugschiss". :thumbsup: Fraglos stellt dieser Grabfund einen sehr speziellen Einzelfall dar, der für sich genommen erstmal keine allgemeinen Rückschlüsse auf die Geschlechterrollen in der Kultur des Verstorbenen (ob nun skandinavisch oder baltisch) zulässt. Trotzdem finde ich es spannend, hier ein Beispiel für eine Person zu finden, die schon aufgrund ihrer äußeren Erscheinung nicht in das binäre Geschlechtermodell von Mann und Frau hineingepasst hat, und die Rückschlüsse auf den sozialen Status, die sich - mit aller Vorsicht - aus der Bestattungssitution und den Grabbeigaben ziehen lassen. Da lohnt es sich für mich, weiter zu recherchieren... Die Bezeichnung als "Kriegerin" nur aufgrund der beigegebenen Waffen ist natürlich mehr als fragwürdig (macht für mich aber auch nicht das Spannende an diesem Fund aus). :kopfhauJetzt muss ich doch mal klugscheissen - der verlinkte Artikel geht mir doch ein bisschen zu schludrig mit dem Begriff "Zwitter" um. [...] Von daher dürfte diese Person tatsächlich von ihren Zeitgenossen als eine Art Mischwesen aus Mann und Frau wahrgenommen worden sein. Ein Zwitter im biologischen Sinne ist er aber nicht. Spannend ist und bleibt aber auf jeden Fall, wie seine Zeitgenossen mit diesem offensichtlich optisch zwischen den Geschlechtsdimorphismen liegenden Individuum umgegangen sind. Anhand der Grabbeigaben stand dieser Mensch ja wohl nicht am Rande der Gesellschaft, sondern war durchaus ein geachtetes Mitglied derselben.
Hab gerade mal etwas zur ethnisch/kulturellen Einordnung der frühmittelalterlichen Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Finnland, Karelien, sowie den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen recherchiert - und wie so oft ist es komplizierter als zuerst gedacht. ^^ Nimmt man die Sprache als Gliederungskriterium, dann hat man zum einen die Gruppe des ostseefinnischen Zweigs der finno-ugrischen Sprachen, zu der u.a. Finnisch, Karelisch und Estnisch gehören. Südlich davon - auf dem Gebiet des heutigen Lettland und Litauen - trifft man auf die baltischen Sprachen, welche zur Gruppe der indogermanischen Sprachen gehören. Siehe auch: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ostseefinnische_Sprachen https://de.m.wikipedia.org/wiki/Baltische_Sprachen Quelle: Wikipedia Auch mit Blick auf die Kultur- und Siedlungsgeschichte unterscheidet sich Finnland deutlich sowohl von Skandinavien als auch vom südlicheren Baltikum - dem Siedlungsgebiet der baltischen Völker auf dem Gebiet des heutigen Lettland und Litauen. Finnen, Karelier und Esten gehören hingegen zur Gruppe der finno-ugrischen Völker. Siehe: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Finno-ugrische_Völker https://de.m.wikipedia.org/wiki/Finnen https://de.m.wikipedia.org/wiki/Karelier https://de.m.wikipedia.org/wiki/Esten https://de.m.wikipedia.org/wiki/Balten Quelle: Wikipedia Ungeachtet dessen hat es offenbar - und wenig verwunderlich - deutliche gegenseitige Beeinflussungen gegeben. So bin ich bei Wikipedia auf ein Foto einer Karelierin in Tracht gestoßen, bei dem mir nicht nur die - vermutlich auch paarig vorhandene - Ovaalfibel gleich ins Auge gesprungen ist. Sogar explizit zu den baltischen Ovaalfibeln hat "Der Glasperlenmacher" recherchiert: http://www.derglasperlenmacher.de/kunterbunt-ii/ovalspangen-baltisch/ovalspangen-baltisch.html Auf dem Hintergrund der Aussage bei Jesch, die ich in meinem vorigen Posting zitiert hatte (paarige Ovalfibeln = Marker für skandinavischen Ursprung), vermute ich, dass es sich bei diesen Trachtelementen um skandinavische Einflüsse handelt, was aber noch zu verifizieren wäre. Mit Blick auf den finnischen Grabfund muss man fraglos zuerst einmal klären, ob die bestattete Person eher dem skandinavischen oder dem finno-ugrischen Kulturkreis zuzuordnen ist. Angesichts der Reise- und Expansionsbewegungen der wikingerzeitlichen Skandinavier halte ich einen skandinavischen Ursprung jedoch für durchaus denkbar - analog zu Funden, wie @Olegsson sie weiter oben ja auch schon aufgeführt hat. Ergänzung aus meiner persönlichen Erfahrung: Vor vielen Jahren hatte ich das Glück, eine Rundreise durch Finnland machen zu können: von Helsinki aus auf einer westlichen Route über Oulu und Rovaniemi durch Lappland nach Nordnorwegen bis hoch zum Nordkapp und von dort aus auf einer östlichen Route wieder runter über Inari, Kuusamo, durch Karelien und zurück nach Helsinki. Dabei ist mir der Gegensatz zu den skandinavischen Ländern sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben. (Die baltischen Staaten habe ich bislang noch nicht bereist, dazu fehlt mir somit der Vergleich.)Mir geht es eigentlich nur darum, dass Südfinnland weder Skandinavien zugerechnet wird noch dem "Wikinger-Kulturkreis". Das ist baltisch.
Einerseits hast du in sofern Recht, als wir tatsächlich so gut wie keine zeitgenössischen Schriftquellen aus dem wikingerzeitlichen Skandinavien haben, die uns im Detail Aufschluss über die Glaubensvorstellungen der "Wikinger" geben können. (Ich gebrauche den Begriff jetzt mal der Einfachheit halber als Synonym für "die Bevölkerung im wikingerzeitlichen Skandinavien". ) Immerhin gibt es einige Runensteine, auf denen Gestalten auftauchen, die zu den Beschreibungen aus der Edda passen. Im 20. Jahrhundert galten die Edda und die Sagas aufgrund ihrer späten Entstehung - ca. 200 Jahre nach Ende der Wikingerzeit - wohl lange als nicht aussagekräftig für die Kultur der Wikinger. Diese Einschätzung hat sich meines Wissens in den letzten Jahrzehnten jedoch gewandelt. Mittlerweile etabliert sich eine quellenkritische Herangehensweise, bei der versucht wird, die wikingerzeitlichen Elemente der Sagaliteratur ausfindig zu machen und in ein Gesamtbild einzuordnen, das sich aus allen Quellentypen - u.a. Runensteine, archäologische Funde... - ergibt. Von archäologischer Seite her befasst sich das Buch "The Viking Way" von Neil Price mit dem Versuch, Rückschlüsse auf die religiösen und mythologischen Vorstellungen der Wikinger zu gewinnen: https://en.m.wikipedia.org/wiki/The_Viking_Way_(book) Leider konnte ich es noch nicht lesen. Fraglos muss man sich stets bewusst machen, in wieweit Spekulationen in solche rekonstruierten Vorstellungsbilder einfließen, aber was wir mit einiger Sicherheit über das Weltbild der Wikinger wissen können ist deutlich mehr als "Nüscht".Ich sehe ein Problem darin, daß, soviel ich weiß, vom tatsächlichen Weltbild jener Menschen der skandinavisch-nordeuropäischen Eisenzeit wenig bis Nüscht erhalten blieb. Die Edda kann ja als Grundlage der Recherche kaum herhalten.
Dem Artikel zufolge ist ja gerade das spannende an dem Fund, dass sowohl männertypische (Schwerter), als auch frauentypische (Ovalfibeln) Grabbeigaben gefunden wurden: „Es ist für Skandinavien sehr ungewöhnlich, ein Schwert in einem Grab zusammen mit typisch weiblichen Artefakten zu finden“, erklären Ulla Moilanen von der Universität Turku und ihre Kollegen. „Denn die Gräber weiblicher Toter mit Schwertern enthalten in der Regel keinen Schmuck oder sonstige feminine Accessoires.“ Quelle: scinexx.de Das war mir vorher in dieser Klarheit auch noch nicht bewusst. Noch ein spannender Punkt, dem ich nachgehen werde... In meinen Augen spricht einiges dafür, dass die Person von ihren Mitmenschen als "zwischengeschlechtlich" wahrgenommen wurde: Wäre die Person zu Lebzeiten weitgehend eindeutig als Mann durchgegangen, dann hätte man sie wohl auch dementsprechend bestattet. In diesem Fall wären Schwerter als Grabbeigaben nicht untypisch und lediglich ein Hinweis auf einen hohen sozialen Status. Dass man erst nach dem Tod bemerkt hat, dass die Person auch weibliche Merkmale aufweist und sie dementsprechend bestattet hat, halte ich ebenso für eher unwahrscheinlich, da die primären Geschlechtsmerkmale bei dieser genetischen Variation ja eindeutig männlich sind. Das wirklich spannende an diesem Fall ist in meinen Augen, dass eine Person, die grundsätzlich das Potential gehabt hätte, eher als Mann durchzugehen*, offenbar trotzdem auch den weiblichen Aspekt ihrer Person sichtbar zum Ausdruck gebracht hat. Das ist in sofern bemerkenswert, als in einer männerdominierten Gesellschaft der - teilweise oder vollständige - Wechsel von der Männer- in die Frauenrolle meist mit einem Verlust von sozialem Status verbunden ist. Das kann man auch in unserer heutigen Gesellschaft noch deutlich beobachten: Wenn Frauen z.B. Männerkleidung tragen, dann gelten sie als taff und werden eher ernst genommen. Wenn hingegen Männer Frauenkleidung tragen, entspricht dies quasi einem sozialen Abstieg. Das ist auch einer der Gründe, weshalb es Transfrauen (= Menschen mit weiblicher Geschlechtsidentität, die in einem männlichen Körper geboren wurden) vor ihrer Transition i.A. deutlich schwerer haben als Transmänner. Darum outen sich auch erheblich mehr in einem weiblichen Körper geborene Kinder als Transjungen (und beginnen ihre Transition frühzeitig) als umgekehrt. *Auf der Wikipedia-Seite zum Klinefelter-Syndrom ist ein Foto einer solchen Person: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Klinefelter-Syndrom Um der Sache wirklich auf den Grund zu gehen, werde ich bei nächster Gelegenheit mal versuchen, an die Originalveröffentlichungen zu dem Fund heranzukommen...Wenn ich Katharinas Exkurs richtig verstanden habe, handelt es sich ja hier um Menschen, die primär doch eher maskulin erscheinen und erst auf den zweiten Blick mehr oder weniger unterschwellig feminin scheinen? Warum wurde derjenige welche nun mit Waffen bestattet? Vielleicht wusste er zeitlebens seine "Mutationen" zu verstecken oder er wurde als "Gott" o.ä. verehrt?
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