Heidensohn
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Dieses Jahr war ich als gebuchter Musiker und Händler in der "Stadt" der weltgrößten Liverollenspielveranstaltung ConQuest of Mythodea (kurz CoM). Für fünf Tage erschafft der Regensburger Veranstalter Live Adventure auf 60 Hektar für rund 7000 vollzahlende Teilnehmer (Spieler) mit 1000 Statisten (NSCs) gut 500 Organisationshelfern/Ordnern/Sanitätern und einer mir nicht näher bekannten Zahl von Händlern/Musikern die reale Umsetzung eines Heerzuges auf dem fiktiven Fantasy-Kontinent Mythodea, die durch die Teilnehmer mit Leben gefüllt wird. Neben zahlreichen Spielerzeltlagern und Aufbauten beinhaltet dieses Spiel auch eine Zeltstadt mit gut 300 Bewohnern voller Tavernen, Badehäuser, Händler, kleinen Dienstleistern, Gilden, Banden und Künstlern, eben Die Stadt.
(Und das hier ist nur ein Teil der Kernstadt: Es fehlen die Torstraße zu linken, das Seefahrerviertel, von dessen Schiff aus fotografiert wurde, nach hinten, sowie die Vorstadt mit Barden/Künstlern/Tempeln zur rechten. Es gehört zum Wesen eines Liverollenspiels, dass es keine unbeteiligten Besucher gibt, sondern nur Teilnehmer, also Mitspieler, die mehr oder weniger angepasst und integriert in das Setting der Veranstaltung sind. Ergo: Kein Touri vulgaris. Da die Hintergrundwelt ein sehr offener Fantasy-Crossover ist spielt historische Korrektheit absolut keine Rolle. Dafür wird gerade in der Stadt umso größerer Wert auf Ambiente gelegt. Das beinhaltet eine im Vergleich sehr strenge Auslese und Kontrolle der Händler, ihrer Stände und Waren. Ob etwas "mittelalterlich" ist, ist völlig egal, aber es muss "vormodern"/altertümlich sein. Dadurch hat sich in der Stadt ein Ambiente entwickelt, dass eine meiner Meinung nach recht angenehme Mischung aus "Gangs of New York", Tortuga aus "Piraten der Karibik" und Ankh-Morpok ist. Es gibt zwei Währungen: Die Händler und Wirte wollen für ihre Waren natürlich Euros sehen, ansonsten zahlt man aber Schuhputzer, Bauchtänzerin, Boten und Schutzgeldeintreiber mit Spielmünzen. Die Händler haben stets die Option sich aus dem auf die Spielwelt ausgerichteten Spiel herauszunehmen und nur wie auf einem ungewöhnlichen Mittelaltermarkt ihre Sachen zu verkaufen, immer mehr beteiligen sich aber über Gilden, Spiel mit den "ehrenwerten Gesellschaften", der Stadtwache, oder den Bettlern an der Gesamtszenerie. Größere Händler nutzten beispielsweise die Gelegenheit um Restposten in einer publikumswirksamen von im Spiel angeworbenen Schlägertrupps geschützten Versteigerung auf der Straße unter die Leute zu bekommen. Die Stadt/der Markt ist vom Veranstalter nicht auf Geldverdienen (dafür sind die Teilnehmerbeiträge von bis zu 135€ da) oder Touribespaßung (die gibt es ja nicht) ausgelegt, sondern darauf den Teilnehmern einen Ort zum Einkaufen und Feiern mit möglichst stimmiger Atmosphäre zu liefern, der Teil einer lebendigen Welt ist. Der Veranstalter will schöne und interessante Stände und kann dafür mit einer sehr großen Zielgruppendichte aufwarten. Die Vorteile:

- Keine nervige Selbstbetitelung mit Mittelalter, kein hochtrabender Anspruch, dem man doch nicht gerecht wird.
- Gerade zwischen 18 Uhr und 02 Uhr eine dichte und stimmige Atmosphäre, die ich bisher nirgends sonst erlebt habe.
- Praktisch nur verkaufsrelevante Zielgruppe: Ich habe handgebundene aus Italien importierte Blankobücher für teuer Geld verkauft. Zum einen war die Verkaufsmenge merklich höher und zum anderen reagierten die Stadtbesucher viel offener, interessierter und freundlicher auf mein wortreiches Anpreisen als auf normalen Märkten (bzw. sie reagierten überhaupt), so dass die vorbeiziehenden "Nichtkäufer" mir trotz hohen Sprechaufwandes nicht die Laune verdorben haben.
- Wenn man den Stand mal zu macht oder an einen evtl. vorhandenen Mitarbeiter gibt warten unendlich viele Handlungsmöglichkeiten. Bei der Straßenkampfliga der O'Gradys auf einen der zum Teil professionelle Wrestlingqualitäten habenden Kämpfe wetten? Musiker, Tänzerinnen oder Feuershow ansehen? Sich auf die Suche nach der legendären Diebesgilde machen? Sich in einer Gilde mit dem Gouverneur um den Zent streiten? Die neusten Geschehnisse außerhalb der Stadt erfahren? Oder einfach nur im Schatten gammeln und unglaubliche Kostüme bewundern (oder über sie lästern)? Man kann natürlich auch im Spiel Streit suchen, dann sollte man aber darauf achten nicht an Leute mit einflussreichen Freunden zu geraten.
- In Anbetracht der schieren Größe des Gesamtevents (fast 10000 Personen auf dem Gelände) ist die Organisation der Stadt durch Meks und Tina überraschend freundlich, ja fast schon entspannt (man fährt sechs Stunden nach Norden und wird mit Regensburger Zungenschlag und Kulmbacher Bier begrüßt 8o ) und zugleich kompetent, durchdacht und handlungsfähig. Man bemerkt, dass hier Leute schon seit acht Jahren Erfahrung gesammelt und immer noch Herzblut haben.
- Da das Gelände nicht effektiv eingezäunt ist, traue ich dem Frieden nicht und würde Waren und Wertgegenstände keinesfalls unbeaufsichtigt lassen.
- Gerade unter den Spielern, die zum Feiern bis Saufen in die Stadt kommen hat es immer wieder Personen mit Minimalgewandung, gegen die eine Birkenstock-Schlabberhose-Piratenhemd-Kombi regelrecht mittelalterlich erscheint.
- Bis halb zwei, drei Uhr nachts ist in und vor den Tavernen Party mit Ausschank, Musikern, Tänzerinnen und Feuerkünstlern (allerdings komplett ohne Verstärkung oder Konservenmusik), was stören kann, wenn man vorher ins Bett möchte.
- Idioten gibt es überall, so auch hier. Leute, die sich unverantwortlich voll laufen lassen, Leute, die glauben dilettantisch gespielte Überfälle wären eine Spielbereicherung und jeder müsste bei sowas zu Gunsten des Spielspasses der Räuber kooperieren, Leute, die einem unsympathisch sind. Leute, mit denen man einfach nicht auskommt.






