Fifill
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Ich habe schon seit längerem den Gedanken, dass sich die Authentizität von Rekonstruktion und Darstellung mittelalterlicher Gegenstände und Gegebenheiten recht gut aus der Sicht des wissenschaftlichen Modellbegriffs betrachten lassen müsste. Hier der Versuch einer Beschreibung meines Denkansatzes: Was versteht man in der Wissenschaft unter einem Modell? "Tante Wiki" antwortet auf diese Frage: "Ein Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit. Das Abbild kann die Form konkreter Gegenstände haben (Modell-Eisenbahn, Computersimulation u. ä.) oder rein abstrakt dargestellt sein (Theorien, Gleichungen). Nach Herbert Stachowiak kennzeichnen ein Modell mindestens drei Merkmale: 1. Abbildung Ein Modell steht immer für etwas anderes – nämlich für ein natürliches oder ein künstliches Original, welches es somit abbildet oder repräsentiert. […] 2. Verkürzung Ein Modell erfasst nicht alle Attribute des Originals, sondern nur diejenigen, die dem Modellschaffer bzw. Modellnutzer relevant erscheinen. 3. Pragmatismus Modelle sind ihren Originalen nicht eindeutig zugeordnet. Sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion a) für bestimmte Subjekte (für wen?) b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle (wann?) c) unter Einschränkung auf bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen (wozu?)." (Quelle: Wikipedia) Die für meinen Denkansatz wesentlichen Aspekte sind "Verkürzung" und "Pragmatismus". Daraus ergibt sich, dass jedes Modell immer nur unter gewissen Rahmenbedingungen Gültigkeit hat und nur innerhalb dieses Rahmens sinnvolle Ergebnisse liefert. Dazu ein paar anschauliche Beispiele: Will man die Geschwindigkeit und Kräfte berechnen, mit denen zwei Ritter im Tjost aufeinander prallen, dann eignen sich dafür sehr gut die newtonschen Gesetze der klassischen Mechanik. Schleudert hingegen Thor seinen Hammer "Mjöllnir" mit annähernder Lichtgeschwindigkeit, dann lässt uns Newton im Stich und wir müssen das komplexere Modell der einsteinschen Relativitätstheorie bemühen. Diese wiederum kommt an ihre Grenzen, wenn zugleich relativistische und quantenmechanische Effekte berücksichtigt werden müssen, z.B. bei Vorgängen sehr kurz nach dem Urknall. Mein Schwertsimulator ("Übungsschwert") besteht aus einem schweren, sehr stabilen Kunststoff und bildet recht gut die wesentlichen Maße, das Gewicht und die Balance eines spätmittelalterlichen "langen Schwertes" nach. Dadurch eignet es sich für mich, um alleine Huten und Haue zu üben. Beim Training mit einem Partner dürfte sich das Verhalten "in der Bindung", d.h. wenn die Schwerter sich berühren, jedoch stark von dem eines Schwertsimulators aus Metall oder gar dem eines "richtigen", scharfen Schwertes (genauer gesagt: einem möglichst präzisen Modell eines mittelalterlichen Schwertes ) unterscheiden. Treffen heutzutage beim Reenactment einer mittelalterlichen Schlacht Kombattanten aufeinander, dann unterscheiden sich deren Ziele – Spaß haben, ohne sich ernsthaft zu verletzen – signifikant von denen der Teilnehmer an der historischen Schlacht – überleben und den Feind besiegen. Dies hat fraglos Auswirkungen sowohl auf die Ausrüstung, als auch auf den Kampfstil. Im Grunde kann ich jegliche Rekonstruktion und Darstellung mittelalterlicher Gegenstände und Gegebenheiten als ein Modell betrachten, das die historischen Gegebenheiten mehr oder weniger präzise nachbildet, und mich fragen, welche Vereinfachungen dabei vorgenommen wurden und wie sich diese auf das Ergebnis auswirken. Je näher die Ergebnisse meines Modells den Eigenschaften und dem Verhalten der historischen Vorlage kommen und je größer der Bereich, in dem es Gültigkeit hat, desto authentischer ist es. Es hat dann gewissermaßen einen hohen "A-Faktor". Ein weiterer Punkt ist noch, dass kein Modell dem Gegenstand, den es abbildet, zu 100% – also ohne jegliche Einschränkung – entspricht. Bezogen auf unsere Rekonstruktionen bedeutet dies, dass wir uns dem Ziel von hundertprozentiger Authentizität zwar annähern, dieses jedoch nie gänzlich erreichen können. In sofern ergibt dann die Frage "Ist das authentisch, ja oder nein?" auch keinen Sinn. Ich kann lediglich differenzieren, ob eine Rekonstruktion/Darstellung eher nur sehr grob authentisch ist (z.B. ein an historischen Vorlagen orientierter geschnittenes Gewand, welches jedoch aus Baumwolle und mit Maschine genäht ist) oder so dicht an "100% A" herankommt, wie unter heutigen Bedingungen nur irgend möglich (z.B. die Rekonstruktion der "ältesten Hose der Welt", siehe Die Erfindung der Hose) Wie kann ich nun einen Eindruck davon bekommen, wie authentisch beispielsweise ein Gewand ist, das ich mir nähe? Dazu kann ich mir z.B. die folgenden Fragen stellen und beantworten: Weshalb habe ich mich für einen bestimmten Stoff entschieden? "Hatte ich gerade noch rumliegen." – vermutlich eher geringer "partieller A-Faktor" (partiell, weil nur auf den Aspekt Stoffauswahl bezogen) "Hatte ich gerade noch rumliegen und habe Belege dafür, dass diese Art Stoff (Material, Bindung…) am Ort und Zeit der angestrebten Darstellung tatsächlich verwendet wurde." – mittlerer partieller A-Faktor "Entspricht so weit wie irgend möglich dem als Vorlage dienenden Originalfund (alte Schafart, handgesponnen, handgewebt…)." – hoher partieller A-Faktor Weshalb habe ich mich für eine bestimmte Farbe entschieden? "Find ich einfach schön." – niederiger A[sub]p[/sub] "Ja, ich weiß, dass Leinen mit mittelalterlichen Farbstoffen schwer zu färben war und deshalb meist ungefärbt getragen wurde. Aber in Naturleinen seh ich aus wie ne Leiche, deshalb hab ich’s in nem Farbton gefärbt, der mit mittelalterlichen Färbemitteln immerhin möglich gewesen wäre." – mittlerer A[sub]p[/sub] "Ich seh in Naturleinen zwar aus wie ne Leiche, aber dafür ist’s so authentisch wie möglich." – hoher A[sub]p[/sub] Weitere Beispiele: Möglichst präzise Rekonstruktion eines nur fragmentarisch erhaltenen Fundes – mittlerer A-Faktor In diesem Fall ist der Grund für den vergleichsweise niedrigen A-Faktor nicht eine bewusst vereinfachende Design-Entscheidung, sondern der Mangel an Informationen. Generische Wikingerdarstellung aus Elementen, für die es – räumlich wie zeitlich – weit verbreitet Belege gibt – mittlerer A-Faktor Nachbildung eines ganz konkreten Grabfundes – hoher A-Faktor Aber Obacht! Grabfunde sind bestenfalls lediglich ein "Zerrspiegel des Lebens"! So kann aus einer möglichst exakten Nachbildung bei Darstellung einer lebendigen Person durchaus ein höchst fragwürdiges Ergebnis herauskommen (Stichwort: Frauengräber mit Waffen als Grabbeigaben). Als Darsteller der konkreten Leiche im Grab wär's dann aber wieder ok. Ich hoffe, ich konnte euch meinen Denkansatz verdeutlichen und bin gespannt auf Feedback und konstruktive Kritik.