Geisteskrankheiten im Mittelalter

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Viator

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Dieser Thread hat seinen Schwerpunkt im Bereich Medizingeschichte. Mich interessiert sowohl der medizinische, als auch der neurologische, psychologische und psychathrische Bereich. Da ich weiss, daß im Forum ein paar Personen schreiben, die sich interdisziplinär - beruflich mit diesem Thema auseinandersetzen, freue ich mich auf einen angeregten Gedankenaustausch und bitte darum, eventuelle Fachbegriffe kurz zu erklären oder einen entsprechenden Hyperlink in das Thema einzustellen. Da es sich um eine komplexe Themenstellung handelt, bitte ich um grösste mögliche Sachlcihkeit. :) Ausgehend von den Geschichtsschreibern der Antike sind verschiedene "Geisteskrankheiten" (Achtung - Medizinhistorischer Kontext; diese werden Heute aufgrund des Forschungsstandes anders definiert) überliefert. Hier sind einige Beispiele: Stottern: Der erste verfügbare Beleg für das Stottern findet sich in den Büchern Mose in der Bibel.
"Moses sprach zum Pharao mit schwerer Zunge". (Sinngemässes Zitat nach Prof. von Deuster; Facharzt für Phoniatrie an der Uniklinik Würzburg während einer Vorlesung im Fach Phoniatrie an der Berufsfachschule für Logopädie in Bad Neustadt/ Saale)
Der erste gesicherte Beleg findet sich in der Antike bei dem Redner Demosthenes, welcher gleichzeitig als erster Stottertherapeut gilt, weil er mit Kieselsteinen im Mund das flüssige Reden geübt haben soll. (Fachlich: er hat sich mit Steinen im Mund von seinem Sprechen abgelenkt um flüssig reden zu können) Nach meinem Gedächtnis galt das Stottern im Mittelalter als Geisteskrankheit. Ist das in dieser Form korrekt? Wenn ja - kennt jemand im Forum einen konkreten Bericht/ einen konkreten Hinweis dafür? Postraumatischer Stress (kurz PTSD): Gab es mit Sicherheit durch die zahlreichen Schlachten und deren Überlebenden auch schon im sämtlichen Kulturen des Mittelalters. Die Einzelheiten wurden allerdings erst in der Neuzeit erforscht. Die Spekulationen wie damit im historischen Mittelalter umgegangen wurde spare ich mir. :) Tourette Syndrom/ M. Tourette: Definitionhier Entgegen zum Wikipedia - Artikel sind Hier sind erste Belege bereits aus dem Mittelalter verfügbar. Als Quelle beziehe ich mich auf einn Fall aus den sog. Hexenhammer (Malleus Malleficarum). Diese besagt, daß ein Mönch vom Teufel besessen gewesen sei, weil er nach dem Kniefall vor der heiligen Jungfrau Maria der Figur immer wieder die Zunge herrausgestreckt hat. (freies Zitat von mir) Genaueres wurde erst in der Neuzeit erforscht. Chorea/M. Huntington Diese erbliche neurologisch - psychathrische Erkrankung wurde im Mittelalter unter den Namen "Veitstanz" bekannt. Die betroffenen hatten ihren eigenen Schutzpatron, den Hl. Antonius (bzw. den Hl. Veit. Daher auch der Name "Veitstanz") Diverse genetische Syndrome und spielarten der Evolution Hinter dieser Überschrift verbirgt sich eine sehr lange Liste, die ich aus pietätsgründen nicht im Forum vertiefen möchte. Wer sich dafür interessiert, sollte dem [url='http://www.bmm.charite.de/][/url] einen Besuch abstatten. Historisch betrachtet findet sich die eine oder andere Aufzeichnung bei den mittelalterichen "Ketzern", welche sich im geheimen der anatomischen Forschung zugewandt haben. Als bekanntestes Beispiel nenne ich Leonardo da Vinchi. Einer der ersten und sehr präzisen Anatomischen Atlanten wurde erst in der Neuzeit um 1548 von dem Arzt und Anatomen Andreas Vesalius ("de humanis Corporae Fabrica; so weit ich weiss 14 Bände) aufgelegt. Meine Vergleiche mit modernen Atlanten wie Frank Netter (viele Jahre lang ein Standardwerk neben dem Atlas von Sobotta - Becher) brachten beeindruckende Ergebnisse. Hat noch jemand von Euch noch Berichte aus der medizingeschichte, welche diese Liste erweitern oder ergänzen? interessierte Grüsse, der Viator
 
da hast Du aber ein interessantes und weitläufiges Thema angeregt. bin mal gespannt, darüber les ich auch gerne was.
 
Hallo Vieles wurde vermutlich nicht diagnostiziert. Die wurden dann einfach als "Dorfdeppen" mit durchgezogen. Die dörflichen Gemeinschaften hatten ja auch dafür einen Platz. Da brauchte es keine Behindertenwerkstätten, wo die Leute aus dem Gesichtsfeld der anderen entfernt wurden. Krankheiten wie Chorea kamen evtl. kaum zum Tragen, da die Leute ja oft nicht so alt wurden oder aber nach dem Krankheitsausbruch schneller gestorben sind. (Frei nach dem Motto: Was kümmert mich ein Defekt der mit 30 zu Tage tritt, wenn ich mit 25 erschlagen werde ;) ) Depressionen wurden ja auch früher schon als Schwermut bezeichnet und waren sicher auch nicht selten. Evtl. kamen sie aber nicht so offen zu Tage wie heute.
 
Ein interessantes Thema! Ich persönlich finde Psychosen im historischen Kontext sehr interessant. Vor allem wenn man bedenkt das heutzutage ca. 1 % der Weltbevölkerung darunter leidet und es Völker und Kulturübergreifend ist. Ich vermute auch das in vergangenen Zeiten eine Psychose oft unentdeckt blieb. Wenn man sich mal die Lebensläufe einiger "Heiliger" oder Herrscher so ansieht kann man jedenfalls dem einen oder anderem schon eine Psychose diagnostizieren. Die Geschichte ist zum Beispiel voll von Leuten die Stimmen gehört haben oder eine Erscheinung hatten. Klingt vielleicht etwas ketzerisch und ich beabsichtige auf keinen Fall irgendjemandes Glauben zu diskriminieren ! Aber ich denke auch das nicht unbedingt jede Erscheinung auch auf einen Gott oder Heiligen zurückzuführen ist sondern das mit Sicherheit oft eine Psychose dahinter steckte.
 
Da dieses Forum politisch und konfessionell Neutral orientiert ist, schlage ich vor, die Begriffe "Kirche", "Inquisition", "Ketzerei" etc. ausschliesslich im hist. Kontext zu verwenden, so weit dieser durch Quellen nachweisbar ist. :) Das mit den Depressionen ist richtig. Mir fällt in diesem Kontext die sog. "Blutgräfin", Erzsébet Báthory ein. Dieser Fall ist sowohl kriminalhistorisch als auch von der hiesigen Themenstellung hochinteressant; fällt aber leider aus der Thematik des Forums. Gibt es einen ähnlichen Fall im Mittelalter? Ich bin bei einer schnellen Suche auf Vlad III. Drăculea gestossen. Um diese Person ranken sich zahlreiche Mythen und Legenden. Aber auch historische Fakten. Vielleicht findet sich hier der eine oder andere Anhaltspunkt zum Kernthema. viele Grüsse, der Viator
 
Hallo Viatur
Chorea/M. Huntington Diese erbliche neurologisch - psychathrische Erkrankung wurde im Mittelalter unter den Namen "Veitstanz" bekannt. Die betroffenen hatten ihren eigenen Schutzpatron, den Hl. Antonius (bzw. den Hl. Veit. Daher auch der Name "Veitstanz")
Zur Ergänzung : In Italien wurde diese Erkrankung "Tarantisums = von der Tarantel gebissen" genannt. Bernt Karger-Decker, Die Geschichte der Medizin, S. 418 Auffällig für mich ist das die Diagnostik bzw. Therapie im HoMi auf dem absoluten Tiefstand war. Erst im SpäMi wurden Krankheiten in Europa den tatsächlichen und nicht religiösen Ursachen zugeordnet. Inwieweit die arabische Medizin die ihr Grundwissen aus der Antike übernommen und dann weiter erforscht hat, sich mit diesen Erkrankungen beschäftigt hat, ist mir leider nicht bekannt. Jerome :)
 
Jerome: Danke für Deine Ergänzungen. :) Ich finde sie hochinteressant. Ich lasse bewusst die arabische Medizin in diesem Thema außen vor, weil bis zur Neuzeit der europäischen und arabischen Medizin zu grosse Kontraste bestehen. Die Kreuzzüge änderten daran im grossen und ganzen wenig. :) Viele Grüsse, der Viator PS: kann es sein, daß du meinen Namen falsch geschrieben hast? :)
 
Die Besessenheit Geisteskranker und der Exorzismus im Früh- und Hochmittelalter Als Erklärung für Abnormalitäten psychisch Kranker Menschen wussten die Menschen des Mittelalters keine andere Erklärung, als dass sie vom Teufel oder einem bösen Geist besessen sein müssten. Wie die unchristlichen Völker der Völkerwanderung in Europa mit Geisteskranken umgingen, wissen wir nicht. Aber seit dem das Christentum die deutschen Länder durchzog, wurden Teufelsaustreibungen immer dann vorgenommen, wenn man sich keine andere Erklärung für die Geisteskrankheit machen konnte. Das Christentum berief sich nämlich auf eine Textstelle aus der Bibel, in der Jesus einen „besessenen“ Jungen heilt. Die Krankheit des Jungen, die in dieser Textstelle beschrieben wird, war in Wahrheit eine Epilepsie. Da die Menschen im Mittelalter das aber nicht wussten, wandten sie diese „Teufelsaustreibung“ nicht nur auf Epileptiker, sondern gleich auf alle Geisteskrankheiten an. Die Textstelle (aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 9, Vers 37 ff.) lautet wie folgt: „37 Als sie am folgenden Tag den Berg hinab stiegen, kam ihnen eine große Menschenmenge entgegen. 38 Da schrie ein Mann aus der Menge: Meister, ich bitte dich, hilf meinem Sohn! Es ist mein einziger. 39 Er ist von einem Geist besessen; plötzlich schreit er auf, wird hin und her gezerrt und Schaum tritt ihm aus dem Mund, und der Geist quält ihn fast unaufhörlich. 40 Ich habe schon deine Jünger gebeten ihn auszutreiben, aber sie konnten es nicht. 41 Da sagte Jesus: O du ungläubige und unbelehrbare Generation! Wie lange muss ich noch bei euch sein und euch ertragen? Bring deinen Sohn her! 42 Als der Sohn kam, warf der Dämon ihn zu Boden und zerrte ihn hin und her. Jesus aber drohte dem unreinen Geist, heilte den Jungen und gab ihn seinem Vater zurück. 43 Und alle gerieten außer sich über die Macht und Größe Gottes. (...)“ Man kann sich nun vorstellen, wie Epileptiker und „tobende“ Geisteskranke gefesselt wurden und mit Gebeten überhäuft wurden. Man galt erst als geheilt, wenn der Teufel tatsächlich ausgetrieben war. Und da diese Form der „Heilung“ nicht erfolgversprechend war, muss es oft eine lange und qualvolle Zeit gedauert haben, bis man die Kranken in Ruhe ließ – so fern sie nicht schon vorher an Unterernährung oder Wassermangel gestorben sind. Das erste Ziel dieser „Heilmethode“ war es übrigens nicht, den Kranken wirklich zu heilen, sondern seine Seele zu retten. Quelle: deutschland-im-mittelalter.de/psychiatrie.php#inquisition
 
Die Irrenhäuser der Städte ab dem 12. Jahrhundert Zur gleichen Zeit wie die Irrenhäuser entstanden auch die ersten größeren Städte. Ich gehe davon aus, dass die Irrenhäuser der Städte nur errichtet wurden, um die psychisch Kranken und andere unangenehme Menschen von dem öffentlichen Leben auszuschließen. Das öffentliche Leben der Stadt sollte den Normalzustand wahren können. Denn in den „Irrenhäusern“ wurden nicht nur Geisteskranke, sondern in Epidemiezeiten auch Lepra- und Pestkranke untergebracht; oder einfach Reisende, die nichts anderes fanden. Schwer Geisteskranke wurden in normalen Krankenhäusern nicht aufgenommen. Ärztliche Versorgung erfuhren in diesen Häusern nur die körperlich Kranken. Ärzte wussten immer noch nicht, wie man psychisch Kranken Menschen helfen sollte. Aufgenommen wurden auch nur die „ruhigen“ Irren. Die „tobenden“ Geisteskranken wurden vor den Toren der Stadt ausgesetzt, ins Stadttor oder in kleine Käfige oder Kisten gesperrt. Sie lebten also wie in Gefangenschaft, oft an Ketten und bekamen nur spärliche Mahlzeiten – alles in allem ein Menschen unwürdiges Leben. Andere Geisteskranke, die komische Bewegungen oder Handlungen durchführten, wurden in Käfigen auf öffentlichen Plätzen präsentiert. Man hoffte, dass sie komisch sein würden und so zur Belustigung der Bevölkerung beitragen würden. Man machte sich noch keine Gedanken, welchen Schmerz die Angehörigen dabei empfinden mussten, wenn ihr geliebter Verwandter so zur Schau gestellt wurde. Die Geisteskranken wurden also von der Gesellschaft isoliert, um den Anschein der Normalität zu bewahren. Anders ging man mit Irren in islamischen Ländern um. Dort wurde schon im 10. Jahrhundert ein psychiatrisches Pflegeheim errichtet. Grundlage dafür war wohl der islamische Glaube, dass Geistesgestörte Gesandte Gottes seien. So pflegte und beruhigte man sie. Quelle: deutschland-im-mittelalter.de/psychiatrie.php#inquisition
 
Fürsorge der psychisch Kranken im Hoch- und Spätmittelalter Zum Glück gab es auch noch eine andere Bewegung zur gleichen Zeit: Das Aufkommen der Wissenschaften, der Geistestätigkeit und der Fürsorge. So fühlten sich die freien Reichsstädte dazu verpflichtet, die psychisch Kranken zu versorgen. Sie wurden dann in Domspitälern untergebracht. Diese waren jedoch wieder nicht ausschließlich für Geisteskranke, sondern ebenso für arme und alte Menschen. Auch wurden psychisch Kranke nun vermehrt in Klöstern untergebracht, wo die Behandlung hieß: „Ruhe, Gebet und Demut“. Bürgerhospitäler wurden eröffnet für sie und christliche Orden verpflegten die Irren und Ausgestoßenen. So lebten psychisch gestörte Menschen im Spätmittelalter also in einem Spannungsfeld zwischen Verfolgung durch die Inquisition und der Pflege durch geistliche Orden. Eine weitere Behandlungsmethode für Geisteskrankheiten Wir haben ja schon davon gesprochen, dass der Satan oder der böse Geist bei psychisch Kranken entfernt werden musste. Dies sollte hauptsächlich mithilfe des Exorzismus geschehen. Eine andere Möglichkeit aber, um den bösen Geist entweichen zu lassen, war das Aufbohren des Schädels. Durch das entstandene Loch konnte dann der böse Geist entweichen – so die Vorstellung des Mittelalter. Um den Schädel zu öffnen, gab es verschiedene Methoden, wie z. B. Das Aufbohren, das kontinuierliche Aufschaben des Schädelknochens oder das Aufsägen. Die Kranken wurden dabei an einen Stuhl gefesselt und mussten die Schmerzen und die Angst ohne Narkose aushalten. Quelle: deutschland-im-mittelalter.de/psychiatrie.php#inquisition
 
Nicht so schlimm, Jerome. :) Heribert: Danke für Deine Beiträge. ^^
 
@Viator, nichts zu danken, hat etwas gedauert, bis ich das in meiner Datenbank wiedergefunden hatte, es war bestandteil meiner suche nach hintergründen der bamberger hexenprozesse im 17. jhd. über den fuchs von dornheim. Die franken unter uns werden schon wissen, wen ich meine, gg.
 
..über den fuchs von dornheim. Die franken unter uns werden schon wissen, wen ich meine, gg.
Heribert, ich finde solche Hinweise nicht sehr hilfreich in einem Thread, der histrorische Grundlagen beinhalten soll, die vielleicht auch Nichtfranken interessieren. Auch kannst Du nicht davon ausgehen, dass jeder, der hier landet, sich so mit dem Thema aueinandergesetzt hat wie Du und man sollte als Wissender schon gscheite Infos geben. Das nächste Mal wenigstens einen Link, Wiki reicht aus. Johan Georg II. Fuchs von Dornheim Grüßle Julia
 
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Die Hexenverfolgung im Mittelalter ist ein Fall für sich daß wir bei Interesse in einem Query diskutieren können. :) Hat jemand den Malleus Maleficarum zu Hause? Wenn ja- finden sich darin noch andere Hinweise auf das Kernthema? viele Grüsse, der Viator
 
Auch wenn das Thema schon ein wenig älter ist, finden sich in dem Roman "Hiobsbrüder" von Rebecca Gablé diverse Hinweise auf geistig und körperliche Behinderte im Mittelalter, insbesondere Epilepsie, körperliche Abnormalitäten, Down-Syndrom. Ich weiß nicht ob im Anhang da etwas zu Quellen o.ä. steht, aber im Text selber werden sowohl die gesellschaftlichen Probleme wie auch Therapieansätze angesprochen. Zu Epilepsie im Mittelalter gibt es aber auch noch folgenden Artikel: http://u0028844496.user.hosting-agency.de/malexwiki/index.php/Fallsucht
 
An das Buch musste ich bei diesem Thread auch direkt denken. Sofern ich mich erinnere (ich habe das Buch schon Ende letzten Jahres kurz nach Erscheinen gelesen) hat Rebecca Gablé im Anhang zwar einiges an Erklärungen drin, aber keine konkreten Quellen. Wenn dich diese interessieren, würde ich dir allerdings vorschlagen, Frau Gablé einfach mal anzuschreiben. Soweit ich weiß, ist sie im Internet sehr aktiv und Fans und Geschichtsinteressierten gegenüber ziemlich aufgeschlossen und freundlich. Gut möglich, dass sie dir eine Liste schicken würde.
 

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