Häusliche und alltägliche Gewalt im MA

This site may earn a commission from merchant affiliate links, including eBay, Amazon, and others.

Rhonwen

Well-known member
Registriert
02. Dez. 2012
Beiträge
808
Reaktionspunkte
343
Ort
34121 Kassel
Hallo, ich bin gerade so schräge drauf und gucke mir die unschönen Seiten der Historie genauer an. Eine Zusammenfassung der Wunden in der Schlacht von Visby erinnerte mich an das Statement eines Freundes: In bestimmten Funden aus germanischer Zeit (ein gut erforschtes Gräberfeld) seien typischerweise an den Frauen- und Kinderskeletten Brüche am Unterarm und am Jochbeinbogen gefunden worden, Zeichen häuslicher Gewalt. Die männlichen Skelette hatten natürlich auch häufig Wunden- von Unfällen, Schlägereien, kriegerischen Einsätzen. Kennt jemand eine Quelle, wo man genauer nachlesen kann?
 
Es gibt ja Sammlungen germanischer Volksrechte, wie die Lex Visigothorum oder die Lex Alemannorum, wo das geübte Recht zusammengestellt war. Später dann Werke wie den Sachsenspiegel, der ebenfalls zB das Eherecht (und das Zusammenleben der Eheleute und der Familie) regelt. Da müsste sich einiges finden lassen. Soviel ich weiß, hatte der Familienvater das Recht, die Angehörigen seines Hausstandes körperlich zu züchtigen. Dieses Züchtigungsrecht in Bezug auf die Ehefrau ist heute noch latent gegeben, als dass eine Körperverletzung durch den schlagenden Ehepartner ein Antragsdelikt ist, also nur auf Antrag des Geschädigten verfolgt und bestraft wird, es sei denn, die Körperverletzung fällt so schwer aus, dass ein öffentliches Interesse der Strafverfolgung besteht. Die körperliche Züchtigung der leiblichen Kinder durch die Eltern wurde erst im Jahre 2000 verboten! Man kann also davon ausgehen, dass das Vermöbeln der Haushaltsmitglieder (wozu auch das Gesinde gehörte) im MA gang und gäbe war. Wie oft und wie schwer das geschah, war sicherlich eine Frage der Charaktereigenschaften des Vaters / der Eltern, der sozialen Kontrolle zB durch die Dorfgemeinschaft und auch der Vernunft: Wer regelmäßig zur Erntezeit Frau und Gesinde arbeitsunfähig schlug, "durfte" nämlich die ganze Arbeit selbst machen. Als sicher nehme ich an, dass körperliche Gewalt als Mittel zur Bestrafung oder zur Durchsetzung der eigenen Interessen erst im Laufe des letzten Jahrhunderts allgemeine Ächtung erfuhr.
 
Danke, Morgan! Kennt jemand eine Auswertung der entsprechenden Verletzungen?
 
Was für Quellen: Gesetze oder Protokolle? Ist zwar nicht das Mittelalter aber der Fall hatte sich 1684 zugetragen. Aus den Protokollen geht hervor, dass Anna Rohr ein 19 jähriges Mädchen, von ihrem Vater stets körperlich (geschlagen) und seelisch (Androhung der Zwangsverehelichung) misshandelt wurde. Sie wollte dem Vater einen Denkzetel verpassen und mischte etwas in das Essen, um ihn für eine kurze Zeit krank zu machen. Die Dosis war zu stark, so das der Vater verstarb. Anna wurde wegen Vatermord verurteilt und am 23. Dezember 1684 hingerichtet Quelle: Protokolle Magistrat und Pfleggericht Wemding von 1684, Stadtarchiv Wemding Es ist zu beachten, dass zur damaligen Zeit auch Verstorbene für ihre Taten verurteilt werden konnten. Eine Verurteilung des verstorbenen Vaters blieb aus.
 
Ich habe keine Protokolle etc., aber ich kann etwas zur damaligen Meinung beitragen. Es war in manchen kirchlichen / theologischen Kreisen bis ins Spätmittelalter umstritten, ob Frauen eine eigene Seele haben. Insofern war Gewalt gegen Frauen etwas selbstverständlich erlaubtes. Gewalt gegen Kinder zur "Züchtigung" wurde aus theologischer Sicht ebenfalls als normal angesehen. Liebe Grüße, Gerald
 
@mondspeer: Kannst Du sagen, was oder wen Du bezüglich der These, dass Frauen keine eigene Seele hätten, mit "manchen kirchlichen / theologischen Kreisen bis ins Spätmittelalter" meinst?
 
Danke für den Link, Morgan. Zur Seelenlosigkeit finde ich da aber nichts. Kannst Du grob sagen, wo man bei Aristoteles die Position finden kann, dass Frauen keine Seele hätten?
 
Leider nicht. Ich habe in der Schule gelernt, dass Aristoteles formulierte, die Seele entstehe nur im männlichen Anteil des Kindes. Weil Mädchen / Frauen aber keinen männlichen Anteil hätten, seien sie seelenlos. Wo genau das steht, weiß ich aber auch nimmer.
 
Seid gegrüßt Das Kirchenrecht besiegelte die Minderwertigkeit der Frau im Decretium Gratiani 1140 n. Chr. Welches 1240 zum offiziellen Kirchengesetz wurde! Sowie einen wesentlichen Teil des Corpus Iuris Canonica bildete der bis 1916 in Kraft war. So durfte die Frau gezüchtigt und auch getötet werden da Sie dem Manne in jederweise untertan sein mußte weil sie ja vom Teufel abstammte und den Mann verführt hatte. Sie galt als unrein durch die Monatsblutung. Der Mann hatte sich dann davon fern zu halten so dass Sie oft außerhalb des Hauses zu bleiben hatte. Tat sie es nicht oder begehrte auf konnte er sie so lange züchtigen bis er ihr den Teufel aus dem Leib geprügelt hatte! Slantche' Lady Morgana :schaem Traurig aber wahr
 
@Morgan: Kein Problem. Die Information ist aber falsch. Extrem verknappt und ohne seinen theoretischen Unterbau: Da Seele bei Aristoteles eine Art Lebensprinzip bezeichnet, hat natürlich jedes Lebewesen eine Seele. Bin trotzdem daran interessiert, wenn irgendwer (mondspeer?) einen Verweis hätte, wo jemand explizit eine Seele bei Frauen leugnet. Also, sofern relevant in dem Sinne, dass es sich nicht um irgendwelche Winzsekten handelt und man erwarten kann, dass dadurch eine allgemeine Haltung betreffs des Umgangs mit Frauen mitbestimmt worden wäre. Möglicherweise ist das auch nah an Off-Topic, weil Spezialthema am Rande. Aber wenn eingebracht wird, dass so etwas wie postulierte Seelenlosigkeit als Grund hergehalten haben soll, um irgendwo und irgendwann zu rechtfertigen, warum jemanden im Gegensatz zum anderen Gewalt angetan werden darf, dann muss man ja auch wissen, wer eine solche Position (Frauen keine Seele) vertreten hat. Und dass diese Position tatsächlich einen relevanten Einfluss auf Umgang mit Frauen gehabt haben soll.
 
Damit hast du Recht. Wobei ich aber eher der Meinung bin, dass man nicht eine "Wertlosigkeit" unterstellen muss, um jemanden zu schlagen. Das Prinzip, wonach eben jemand die Oberherrschaft über die (erweiterte) Familie haben muss, findet sich fast in allen Kulturen der Welt. Meist sind es Männer (vermutlich, weil jemand, der in letzter Konsequenz die Folgen seiner Entscheidungen ausbaden muss, körperlich robust sein sollte, um die Familie eben auch zu verteidigen), seltener sind es Frauen. Und die Auffassung, es sei in Ordnung, in manchen Fällen zum Zwecke der Interessensdurchsetzung körperliche Gewalt auszuüben, ist in fast allen Köpfen noch fest verankert.
 
Ich habe das so in Kirchengeschichte gelernt. Rede aber nicht von Aristoteles, sondern von Paulus (bei dem die Frau zwar eine Seele hat, aber dezidiert weniger Rechte) und v.a. von Thomas von Aquin bzw. seinen Zeitgenossen. Ich schaue noch mal nach, ob ich irgendwo in alten Ordnern die konkrete Quelle finde. Sonst nehme ich hiermit alles zurück und bezeichne es als Spekulation.
 
Zuschreibung von weniger Rechten oder Verständnis von minderwertig steht ja noch mal auf einem anderen Blatt und kann und wurde ja wohl auch unabhängig von etwaigen Seelenzuschreibungen behauptet. Bei Thomas läuft es mit der Seele übrigens in den Grundzügen (wie vieles) analog zu Aristoteles, mal abgesehen von zusätzlichen christlich-theologischen Kontexten, die Aristoteles verständlicherweise nicht abgedeckt hat. Also dürfte auch bei Thomas die Bewertung der Frau keine Verbindung zu einer Seelenlosigkeit ihrerseits haben.
 
Ich denke nicht, dass eine Diskussion über Religion zielführend ist. Die halte ich in dem Fall für den verzweifelten Versuch, das zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, was zumindest teilweise gesellschaftlicher Alltag gewesen sein dürfte. Jeder der mehrere Säugetiere der gleichen Art - wie etwa Katzen, Hunde, Mäuse - gemeinsam hält, weiß, dass einige der Tiere Löcher in Ohren und Pelz haben und andere dann die Chefs sind. Die Chefs vertreten das Rudel nach außen hin und sorgen nach innen für die Ordnung, die nötig ist, um das Überleben der Gemeinschaft zu organisieren. Nicht viel anders dürfte die Organisation in einem Menschenrudel ablaufen, wenn keine übergeordneten Faktoren eine Rolle spielen. Nachdem Menschen zivilisationsgründend sind, erschaffen sie sich diese übergeordneten Faktoren selbst, wobei der Mechanismus mit den Löchern im Pelz bleibt, aber anders aussieht. Stellt euch einfach mal vor, es gäbe keine Polizei, keine Gerichte, kein Jugendamt, keine Gewerkschaften. Da ist man dann schnell in der Situation, dass Manieren eingeprügelt werden - das Rudeloberhaupt hat ja keine Instanzen, an die es Verantwortung oder die Aufgabe der Organisation abgeben könnte. Dafür muss auch niemand in den Jugendknast oder zu den "Strengsten Eltern der Welt". Ich vermute, dass wir dort, wo wir keine Institutionen finden können, die das Zusammenleben organisieren, körperliche Gewalt als Mittel der Durchsetzung und Organisation annehmen können. Und das hat dann weniger einen religiösen Unterbau als vielmehr eine verhaltensbiologische Notwendigkeit.
 
Ich denke nicht, dass eine Diskussion über Religion zielführend ist. Die halte ich in dem Fall für den verzweifelten Versuch, das zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, was zumindest teilweise gesellschaftlicher Alltag gewesen sein dürfte.
Mh, ich würde solche Untersuchungen nicht als Rechtfertigungsversuch verstehen. Dazu, dass die Erklärung, wie es zu bestimmten Sachverhalten kam, Unrecht nicht rechtfertigen kann, kommt also auch noch, dass sie das gar nicht soll. Von historischem Interesse ist die Ursachensuche aber auch ohne Rechtfertigung allemal. Wie verknappt wäre denn unser Wissen, würden wir immer nur auf Einzelsituationen schauen und Kontexte ausblenden. Die Beschreibung von Zusammenhängen und die Bewertung von einzelnen Handlungen, Positionen und so weiter sind zwei verschiedene Sachen. Insofern finde ich also ein Aufdecken von Ursachen sowohl legitim als auch geboten, wenn man sich ein umfassendes Bild machen möchte.
 
Kennt jemand eine Quelle, wo man genauer nachlesen kann?
Das ist die ursprüngliche Frage. Deshalb meinte ich, die Diskussion über Religion wäre nicht zielführend, weil uns das einer Antwort auf die Frage nicht näher bringt. Die Ursachen erklärt es auch nicht. Interessant ist es trotzdem. Unser menschlicher Verstand weigert sich ja sehr oft, uns selber als Säugetiere anzuerkennen und unser Verhalten biologisch zu erklären. Statt dessen wird oft mit Religion (die uns ja angeblich vom Vieh unterscheidet) argumentiert. Die Ursache, warum der Familienvorstand sein Kind geprügelt hat, liegt aber im Rudelverhalten. Der liest ja auch nicht erst in der Bibel nach und haut dann zu. Nein, die Plage benimmt sich daneben, also gibt's sofort eine verpasst. Wenn Mensch nun vor so einer Situation steht und denkt "Warum?", dann konstruiert er mit Verstandeskraft ein Modell, dass das erklärt. Ein religiöser Mensch wird eine religiöse Erklärung finden. Wenn es also historische Belege für solche Gedankenvorgänge (zB "die Seele der Frau ist schwach, also spricht oftmals der Teufel aus ihr, bis man ihn hinausprügelt") findet, dann ist das ein Beleg dafür, dass die häusliche Gewalt statt fand - aber keine Erklärung für die Ursache. Wenn solche Erklärungsmuster populär sind, senken sie aber sicherlich die Hemmschwelle und erleichtern dadurch die Ausübung der körperlichen Maßregelungen. Meines Erachtens bleibt es aber immer noch eine Rechtfertigung und keine Ursache. Rechtfertigung deshalb, weil die religiöse Argumentation ein Recht fertigt (also Handlungen legitimiert). Unrecht bleibt es zumeist trotzdem, weil das Prügeln von Haushalts- und Familienmitgliedern selten gerächt wird und somit ungerächt bleibt. Wobei in dem Zusammenhang interessant ist, dass der Sage gemäß Etzel von Kriemhild vergiftet wurde - was auch Jahrhunderte später nicht moralisch hinterfragt wird, als es Bestandteil des Nibelungenlieds wird und der Frau somit doch sehr weitreichende Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Haushaltsvorstand zugesteht. Dafür gereicht es Gunther zum Vorwurf, dass er seine Brunhilde nicht bändigen kann, weil er ihr körperlich unterlegen ist. Ist das das Sittenbild der Europäer in dieser Zeit?
 
Ich glaube sogar, das dies immer noch das Sittenbild der Europäer ist. Es gibt Frauenhäuser als Zufluchtsort für unter häuslicher Gewalt leidenden Frauen und ihren Kindern (Jungen sind dort meistens nur bis zum 12. Lebensjahr erlaubt). Vergleichbare Männerhäuser gibt es aber kaum und erst seit Kurzem. Studien besagen, dass fast ebenso viele Männer unter häuslicher Gewalt leiden, also gedemütigt, beleidigt, bespuckt, gekratzt, mit Gegenständen beworfen und geschlagen werden. Aber noch weniger Männer als Frauen trauen sich, diese Vorfälle öffentlich zu machen oder gar zur Anzeige zu bringen aus Angst, als Schwächling zu gelten. In einer Reportage, in der es um eben dieses Thema ging, antwortete ein Mann, auf die Frage, wie die Polizeibeamten, bei denen er seine Frau wegen Körperverletzung anzeigen wollte, denn reagiert hätten, sie hätten ihn ausgelacht und gefragt "Ja, Sie sind doch ein großer kräftiger Mann, können Sie Ihrer Frau denn nicht Herr werden?" Eine Frau hingegen, die sich ihres Mannes, der sie über Jahre und Jahrzehnte hinweg schlägt und demütigt, entledigt, indem sie ihn umbringt, hat gute Chancen, mit einem milden Urteil davon zu kommen. Und einem Kind, das in der Schule von den anderen getriezt wird, rät man noch heute "Dann wehr dich doch mal!" Ob Menschen zu früheren Zeiten stärker unter häuslicher Gewalt gelitten haben, dürfte schwer nachzuweisen sein. Auch zu meiner Kindheit und Jugend, als es noch erlaubt war, seine Kinder zu schlagen und es so genannte "eheliche Pflichten" und damit nicht den Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe gab, sind vermutlich viel weniger Kinder geschlagen und viel weniger Ehefrauen vergewaltigt worden, als es ungeschlagene Kinder und respektvoll behandelte Ehefrauen gab. Allein die Tatsache, dass eine bestimmte Handlung erlaubt oder verboten ist, sagt uns ja nichts darüber, wie oft die entsprechende Handlung tatsächlich ausgeführt wurde. Sie sagt uns nur etwas darüber, wie die Gesellschaft zu der betreffenden Handlung steht, sie akzeptiert oder ächtet.
 

Neueste Beiträge

Oben