Teil 2 Doch Wissenschaftler wie Kolberg oder der auf Wikinger spezialisierte britische Archäologe Roderick Dale von der Universität Nottingham hegen erhebliche Zweifel an dieser klassischen Deutung. Schon die richtige Übersetzung des Begriffs "berserkr" aus dem Altnordischen bereitet Sprachwissenschaftlern Kopfzerbrechen. Die zweite Silbe, "serkr", lässt sich noch relativ leicht als "Hemd" und in weiterem Sinne als "Rüstung" deuten. Die erste Silbe, "ber", erlaubt jedoch sowohl die Übersetzung als "Bär" wie auch als Präposition "ohne". Für den Sagenautor und Poeten Snorri Sturluson (1179 bis 1241) war die Sache noch eindeutig: Berserker waren demnach leicht bekleidete Kämpfer, die sich besonders frei bewegen konnten, um Lücken in die gegnerischen Abwehrreihen zu schlagen. In einem alten isländischen Lexikon aus dem Jahr 1814 werden die Berserker ganz selbstverständlich als Räuber beschrieben, die in Unterwäsche in die Schlacht zogen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, gut 800 Jahre nach dem langsamen Abtauchen der Normannenkrieger, bewerteten Gelehrte die Quellenlage plötzlich neu. Nun wurden aus den spärlich gewandeten Kämpfern unversehens Männer, die im Bärenfell über ihre Gegner herfielen und unverwundbar waren – eine Darstellung, die das Bild der Berserker bis in die Gegenwart dominiert. "Was wir heute unter dem Zeitalter der Wikinger verstehen, ist ein Konstrukt von Altertumsforschern aus dem 19. Jahrhundert", urteilt Roderick Dale. So wurden die Wikinger zu einem Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Historiker einen Mangel an Fakten mit einem Überschuss an Fantasie kompensieren. In alten Sagen finden sich beispielsweise Erzählungen, nach denen die gefürchteten Berserker gelegentlich im Schlaf mit Knüppeln erschlagen wurden. Denn die Klingen von Schwertern, so die Erklärung, hätten diesen grimmigen Kämpfern nichts anhaben können. Diese knappen Hinweise befeuerten die bis in die Gegenwart gültige Annahme, dass Wikinger auf dem Schlachtfeld kaum zu besiegen waren – und dass sie nur mit Hinterlist und Tücke unschädlich gemacht werden konnten. Archäologe Dale vermutet, dass es tatsächlich damals Krieger gegeben haben könnte, die mit einem Bärenpelz bekleidet in den Kampf zogen; und womöglich habe die zähe Tierhaut bis zu einem gewissen Grad Schwerthieben widerstanden. Doch den Geschichtskundlern im 19. Jahrhundert waren derlei Erklärungen zu banal. In alten Erzählungen fanden sie vereinzelt Aussagen darüber, dass die normannischen Krieger vor dem Kampf in einen für alle Außenstehenden geradezu beängstigenden Rausch verfallen seien: Angeblich zitterten die Kämpfer am ganzen Leib, stimmten ein wildes Wolfsgeheul an, schäumten aus dem Mund und begannen wie Hunde, auf dem Rand ihres Schilds herumzubeißen. Der schwedische Theologe Samuel Ödmann entwickelte 1784 die Theorie, dass dieses befremdliche Verhalten nur unter dem Einfluss einer psychoaktiven Droge zustande gekommen sein könne. Aus Beobachtungen von Schamanen schloss Ödmann, dass sich die Wikinger vor der Schlacht mit Fliegenpilzen in Rage versetzt hätten. Den Gesetzen der Logik folgend hätte dieser Theorie eigentlich nur ein kurzes Leben beschieden sein dürfen. "Es hilft dir bestimmt nicht, den Krieg zu gewinnen, wenn einzelne Soldaten berauscht übers Schlachtfeld rennen", widerspricht Archäologe Kolberg dieser Vermutung. Aber noch immer gilt unter Wikingerfans die Vermutung als besonders schlüssig, dass sich kampfwütige Berserker vor dem Gemetzel mit einer Pilzpfanne in Stimmung brachten – auch wenn in den alten Sagen an keiner Stelle davon die Rede ist. Die Langlebigkeit dieses Dogmas ist auch deshalb bemerkenswert, weil ihm früh das wissenschaftliche Fundament entzogen wurde. Bereits 1956 veröffentlichte der amerikanische Neurologe Howard Fabing eine ethisch fragwürdige Studie im Fachmagazin "American Journal of Psychiatry", in der er dem Rätsel des Berserkerwahns nachspürte. Der Arzt hatte an Insassen des Staatsgefängnisses in Ohio die Wirkung des Halluzinogens Bufotenin testen lassen – wie der Fliegenpilz eine psychoaktive Naturdroge. Fabing beobachtete bei seinen Probanden Übelkeit, Schmerzen in Brustkorb und Kopf sowie Unruhe – jeder halbwegs fähige Truppenarzt hätte angesichts dieser Symptome weitgehende Kampfunfähigkeit attestiert. Erstaunlicherweise wertete Fabing seine Ergebnisse sogar als Bestätigung für die alte Vermutung, der zufolge die Wikinger vor der Schlacht mutwillig Fliegenpilze konsumiert haben. So hält sich bis heute die Legende, dass die nordischen Krieger im Drogenrausch in die Schlacht gezogen seien. Archäologe Dale kann sich darüber nur wundern: "Es wäre kein nützlicher Zustand in der damaligen Kriegsführung gewesen, als es darauf ankam, dass die Krieger eine Verteidigungslinie halten konnten." Der Forscher ist überzeugt, dass einige seiner Kollegen bis heute einem Missverständnis aufsitzen: All das Beißen, Bellen und Zähnefletschen sei nicht Ausdruck eines durch Drogen veränderten Bewusstseinszustandes gewesen. Vielmehr hätten sich die Männer mit solchen Motivationsritualen – ähnlich wie Sportler in der Gegenwart – gezielt in Kampfstimmung versetzt. Allerdings gehörte bei den Nordkriegern offenbar nicht viel dazu, um die nötige Gewaltbereitschaft aufzubringen. Kolberg vermutet, dass es sich bei den Berserkern meist um Veteranen gehandelt habe, die vom Kampf psychisch schwer gezeichnet gewesen waren – ähnlich, wie es Soldaten in den Kriegen der Gegenwart ergeht. "Tausend Jahre trennen das Wikingerzeitalter vom Krieg in Vietnam", sagt der Archäologe, "aber der Prozess der Traumatisierung ist so ziemlich derselbe." Wie in modernen Zeiten existierten damals viele heimgekehrte Krieger als Gescheiterte am Rand der Gesellschaft. So bleibt von dem heroischen Mythos der Wikinger nicht mehr viel übrig. Entsprechend findet sich in den Sagen kein einziger Hinweis darauf, dass die Berserker nach Rückkehr von ihren Raubzügen als Helden verehrt worden wären – im Gegenteil: Sie bereiteten ihren Zeitgenossen meist nichts als Scherereien. "Wir können davon ausgehen, dass die Berserker die Hells Angels ihrer Zeit waren", vermutet Kolberg Körperlich versehrte Gestalten, geplagt von posttraumatischer Belastungsstörung und dem plötzlichen Bedeutungsverlust, lungerten betrunken und zu jedem Streit bereit in den Ortschaften Skandinaviens herum. "Das war nicht anders als bei Gewalttaten unter Alkoholeinfluss, über die wir heutzutage in der Zeitung lesen", sagt Kolberg. Dass man die Wikinger in späteren historischen Beschreibungen als mythische Kämpfer verklären würde, hätte die mental entgleisten Radaubrüder womöglich sogar amüsiert. Zu ihrer Zeit blühte den Krawallmachern freilich ein anderes Schicksal: Sie wurden mit Knüppeln erschlagen. Oder schlimmer noch: in die Einöde Islands verbannt. (ein Aufruf des Spiegels) Schicken Sie uns Ihr Feedback zu diesem Beitrag.
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