mittelalterliche Musiktheorie

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Liederbolt

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Hier ist mal Platz für Theorie. Auch wenn viele überwiegend :bahnhof verstehen, soll es eigentlich darum gehen, die Dinge eher zu "entkomplifizieren". Wohl eher für Leute mit ein paar Grundkenntnissen... Da nahm ich einstmals ein Buch mit dem Titel "Allgemeine Musiklehre" zur Hand und dachte, im Kapitel Kirchentonarten etwas über die Musiktheorie des Mittelalters zu erfahren. Nun, dem war auch so, jedoch nur sehr eingeschränkt, wie sich später zeigen sollte. Da wird z.B. erläutert, die dorische Tonart bestünde aus den gleichen Tönen wie unsere altbekannte C-Dur Tonleiter, also ausschließlich aus den weißen Tasten des Klavieres, nur dass der Anfangs-, und Endton eben auf dem D sind - so weit, so gut. Ergo dachte ich dorisch zu musizieren, wenn ich auf einem D-Bordun auf den Tönen d,e,f,g,a,h,c,d'... usw. improvisiere, und zum Schluss auf D lande - gar nicht verkehrt. Das ist ja ganz ähnlich wie d-Moll, nur dass die Sexte ein h statt ein b ist - also >dorisch = Moll mit großer Sexteb]?( ...jedenfalls nicht nur. Auch wenn es so in der gängigen, heutigen, allgemeinen Musiklehre so erklärt wird - dies wird dem dorischen nimmer gerecht. Bei einer Vorlesung über Musiktheorie/-geschichte, wurde ein dorisches Werk aus dem gregorianischen Reportoire gesungen und analysiert. Es stand in moderner Notationsübertragung, hatte ein b vorgezeichnet und endete auf d - also d-moll - dachte ich. Aber wie kann denn das dorisch sein? ...mit b? Außerdem gab es doch Dur und Moll angeblich noch gar nicht, aber es ist eindeutig das d-Moll Tonmaterial... ?( Da es in der Vorlesung primär um andere Dinge ging, speiste man mich mit einer kurzen Erklärung ab, die ich nicht annähernd verstand, und ich ging mit großen Löchern im Kopf heim. Um des Rätsels Lösung auf die Spur zu kommen, muss man abschweifen und ganz von vorne beginnen: Wir verstehen die Tonleiter als eine Folge von Tönen, welche von einem Grundton in 5 Ganz- und 2 Halbtonschritten, bis zu seiner Oktave fortschreitet (diatonische Dur-, bzw. Molltonleiter). Dabei sind die Positionen der Halbtonschritte entscheidend: Dur: Ganz G Halb G G G H .c,..d,..e,f,..g,..a,..h,c (wenn man nur die weißen Tasten auf der Klaviatur benutzt, sin die Halbtonschritte immer von e nach f, und von h nach c) (reines)Moll G H G G H G G a,..h,c,..d,..e,f,..g,..a Dabei sind die Leitern in je 2 Tetrachorden, also Vier-Tonreihen organisiert. Dur besteht aus zwei Tetrachorden mit je 2 Ganz- und einem Halbtonschritt. 1. c,..d,..e,f_____ 2. g,..a,..h,c UFF! Im Mittelalter dagegen dachte man in Hexachorden, also 6-Tonreihen. Diese wurden von dem Musikgelehrten Guido von Arezzo(um 1020) begründet. Das Guidonische Hexachord besteht aus einem Halbtonschritt, der von 2 Ganztonschritten umgeben ist. Dies führt zu einem symmetrischen Erscheinungsbild der Reihe: G, G, H, G, G z.B. Hexachord naturale : c,..d,..e,f,..g,..a Solmisation: ut,..re,..mi,fa,..sol,..la Die (alte)Solmisation, geht auf einen alten Johannes-Hymnus zurück, und bezeichnet die Töne mit dessen Anfangszeilen. Dabei liegt der Halbtonschritt immer zwischen mi und fa. [media]http:www.youtube.com/watch?v=SugtS3tqsoo[/media] Der Schlüssel auf der (von unten) 3. Linie, zeigt ein fa an. In absoluter moderner Notation also ein F-Schlüssel. ...Fortsetzung folgt...
 
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:bahnhof ... für das Lorb... ABER :) ein weiterer Grund für seine (die beste) Gattin (aller Zeiten) sich in diesem Forum anzumelden
 
@Lorb, auf dass Deine Gattin im Hexachord "mutieren" möge :D (keineswegs eine Beleidigung, wie noch ersichtlich wird, sondern eine Aufforderung zum praktischen, musikalischen Ausprobieren...)​
Nach den bisherigen Ausführungen, geht die Reihe ja nur bis zum 5. Ton der Leiter. Und was ist nun mit der 6. Stufe? h oder b? - beides! Es ist nämlich möglich, auf den Tönen fa und sol, ein jeweils neues Hexachord zu bilden und wieder von ut anzufangen, wodurch sich die Reihe nach oben erweitert und die Halbtöne sich an verschiedenen Positionen zeigen: Tonnamen:.... ............c....d...e..f....g...a..b/h..c...d...e Hexachordum naturale...ut--re--mi^fa--sol--la Hexachordum molle....................ut--re--mi^fa--sol--la Hexachordum durum........................ut--re--mi^fa--sol--la Somit kann man die 6. Stufe (von re/d aus gezählt) im dorischen als fa = b (b-rotundum), oder als mi = h (b-quadratum) benutzen. Bis heute schreibt man, daraus resultierend, in Deutschland dafür die Töne h und b. Den Vorgang des Wechselns von einem zum anderen Hexachord, bezeichnet man als Mutation - verwandt, jedoch nicht gleich mit der heute gebräuchlichen Modulation (Tonartenwechsel). Das ut, nimmt im dorischen eine Position ähnlich eines Leit-, besser Bestätigungstones für das re ein. Somit besteht die dorische Tonart nicht nur aus einer Reihe von d-d', sondern aus einer Tonart in der das Tonmaterial von C-Dur (Stammtöne) vorkommt, der 2. Ton d (re) der Grund-, besser Finalton ist, und die Möglichkeit von sowohl h, als auch b gegeben ist. Dabei kann die Reihe aber auf jedem beliebigen Ton starten, so dass man auch dorisch auf ut = e, g, cis....usw. bilden kann. UFF! Soviel zur (trockenen) Theorie. Zum Erlernen dieser Phänomene bediente sich Guido der Fingerglieder der linken Hand:
Guidonian_hand.jpg
Quelle: Wikipedia, gemeinfrei Wie diese mysteriöse Hand zu verstehen ist, und wie man sie praktisch umsetzen/anwenden, sowie das zuvor Erörterte an ihrem Beispiel musikalisch hörbar, und somit verständlicher machen kann... ...darum geht's dann nächstesmal. 8o :sleeping: :rolleyes:
 
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Nun soll es praktisch werden. Als primäre Zielsetzung steht das Singen nach der alten Solmisationinnerhalb des Hexachordum naturale, unter Zuhilfenahme der Guidonischen Hand, im Rahmen der dorischen, ersten Tonart. Dazu braucht man keine Noten lesen zu können. Von der Mutation, lassen wir vorerst mal die Finger(glieder), und auch die oben beschriebenen Ganz-, und Halbtonverhältnisse, brauchen uns noch nicht weiter zu tangieren. Wer etwas aus erster Hand über die alte Solmisation wissen möchte, dem sei die Lektüre eines Briefes Guido's an den Mönch Michael, über einen unbekannten Gesang empfohlen: Guido's Brief Zuerst, wird die erste Strophe des (dorischen) Johannes-Hymnus auswendig gelernt. Dazu ist folgendes You Tube-Video sehr dienlich. Immer bei der ersten Strophe laut mitsingen, und evtl. mit einem Stift auf die Noten/den Text tippen. Auch wenn Du keine Noten kannst, siehst Du wo es rauf und runter geht: [media]http://www.youtube.com/watch?v=i9j7y65wgx8[/media] Bei Wikipedia, gibt es eine druckbare, jedoch lizensierte Übertragung in moderner Notation, und auch sonst schwirren viele Versionen, auch alte und Quadratnotierte im Netz...
 
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Ut queant laxis Resonàre fibris Mira gestòrum, Famuli tuòrum Solve pollùti Labii reàtum, sancte Ioànnes. Text: Paulus Diaconus 8. Jhd. Übersetzung: Auf dass die Schüler mit lockeren Stimmbändern mögen zum Klingen bringen können die Wunder deiner Taten, löse die Schuld der befleckten Lippe heiliger Johannes. - bezieht sich auf Zacharias, dem im Lukasevangelium die Stimme genommen wurde, welche er bei der Geburt des Johannes wiedererlangte.​
Wenn die Melodie sitzt, kann man methodisch so vorgehen: - die erste Strophe singen - beim Singen die Silben betonen (dabei mit dem Stift auf die Silben ticken) - die Silben singen, den restlichen Text leise summen - Silben auf den Tonstufen, wie im Hymnus singen, restlichen Text nur denken - die 6 Silben auf ihren Tonstufen singen - Silben rückwärts singen - alle meine Entchen auf Tonsilben (mit Ut beginnen, Dur) - Silben auf ihren Tonstufen improvisatorisch variieren (Anfangs immer mit dem Stift drauftippen) - dabei vorerst vorzugsweise entweder auf Ut (mutiert mixolydisch, später ionisch/Durähnlich), oder Re (Dorisch/Mollähnlich) enden - oder beim Singen ein Klavier/Glockenspiel... benutzen Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La Es gibt bei den Notenausgaben - alte wie neue - verschiedene Varianten, was Rhythmus und Silbenverteilung angeht. Die Silben sind aber immer auf den dafür vorgesehenen Tonstufen - nur darauf kommt es an. Nächstesmal kommt dann die Hand ins Spiel.
 
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Der Tonhöhenverlauf der Guidonischen Hand beginnt an der Daumenspitze. Die Töne heißen: Gamma, A,B,C,D,E,f,g,a,(b)#b,c,d,ee,ff,gg,aa,(bb)#bb,cc,dd,eee (auf der hier benutzten Hand, steht wieder E - führe nur der besseren Unterscheidung mit eee weiter) Auf dem Klavier benutzt man die weißen Tasten, bzw. besteht die Möglichkeit für b (schwarze Taste = b-rotundum) und h (weiße Taste = b quadratum) G,A,H,c,d,e,f,g,a,(b)h,c',d',e',f',g',a',(b')h',c'',d'',e'' Die Tonhöhen sind aber nicht absolut gemeint, sondern relativ - man kann die Reihe von jedem beliebigen Ton aus starten.
tvsdwcc9shg.jpg
Die Hand ist gemeinfrei und kostenlos in druckbarer Version herunterzuladen unter http://www.linkwaregraphics.com/music/misc/guidonian.html Beim Singen benutzt man am besten einfach eine beliebige, bequeme Stimmlage. Bei unseren ersten Solmisationsübungen in Dorisch, liegt der Ton Ut am Wurzelgelenk des Zeigefingers, das Re am Wurzelgelenk des Mittelfingers usw. Die tieferen Töne brauchen wir erst später bei der hypodorischen Tonart, bei der es ab dem Re sowohl auf, als auch abwärts geht. Dabei fällt auf, dass Guido ein echter Fan von Symmetrie war. Das Re (erster To der ersten Tonart) wird mittig liegend sowohl auf-, als auch abwärts von je einem Ganz-, und folgendem Halbtonschritt eingebettet, und liegt um dies visuell zu verdeutlichen, auf dem Wurzelgelenk des mittleren Fingers - jedenfalls verstehe ich es so. Edit: Einen tieferen Zugang dazu vermittelt das Buch:" Solmisation und Kirchentonarten" von Ina Lohr bei Edition Hug III09. Hier werden Alle Kirchentonarten mit ihren Mutationsmöglichkeiten aufgeschlüsselt - allerdings ohne die Hand.
 
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Dieser symphatische Herr zeigt den Johannes-Hymnus in der Solmisation. Leider sind Bild und Ton etwas zeitversetzt - das Bild erscheint mir um ein klein wenig zu früh. [media]http://www.youtube.com/watch?v=RlleweQuq14[/media]
 
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Hallo Nairolf, danke, für dieses Interessante Thema. Da ich mich mit der alten Musik auseinandersetze, werde ich auch an diesem Thema nicht vorbei kommen. Ich habe gerade einen Ritt von 980 km hinter mir und es fehlt mir einfach die Konzentration, das zu lesen und zu verstehen, was Du hier aufgeführt hast. Aber glaube mir, ich werde es mir in den nächsten Tagen in Ruhe durchlesen und Dich dann ganz bestimmt mit der ein oder aderen Frage belästigen. Bis dahin möchte ich Dich ermutigen, nicht aufzuhören, alles aufzuschreiben, was Du schon verstanden hast, oder auch nicht. Gruß Lolle
 
Sehr schön Nairolf, vielen DANK. ich werde in drei Wochen mal wieder ein Referat in einer Realschulabschlussklasse zum Thema mittelalterliche Musik halten... mal schauen was ich da alles einbauen kann :)
 
Nach nunmehr einigen Monaten Beschäftigung mit dem Thema, habe ich die "Guidonische Mutationslehre" vorerst auf Eis gelegt. Meine ursprüngliche Zielsetzung war es, einen mir unbekannten Gesang auf möglichst authentische Weise "vom Blatt" zu singen, am besten so flüssig als wenn ich Zeitung lese. Dabei ist es nicht gerade förderlich, wenn mann mitunter mitten in einem Wort, oder sogar inmitten einer Silbe das Hexachord wechseln, die entsprechenden Silben zuordnen, und dabei ohne Unterbrechung weitersingen will. Habe mich deshalb entschieden, voresrst im "Vomblattsingen" auf die moderne "Relative Solmisation" umzusteigen. Dabei wird die 7. Stufe ursprünglich mit der Silbe Si benannt, was erstmals bei Bartolomeo Ramis 1482 Erwähnung fand. Die Silbe ergibt sich aus der letzten Zeile des Johannes-Hymnus: Sancte Ioannes. Heute benutzt man statt Si die Silbe Ti, da es Silben für alle alterierten (erhöht/bzw. erniedrigt) Töne gibt, und der Ton So (früher Sol) erhöht Si ergibt (z.B. wird aus G ein Gis). Die Reihe heißt also nun: Do (Ut), Re, Mi, Fa, So, La, Ti, Do Damit kann man sich die Mutation sparen. Das Ergebnis ist für mich auf bescheidene Weise recht beeindruckend: Ich kann nun eine noch nie gehörte (nicht so komplizierte) diatonische Melodie in langsamem Tempo vom Blatt absingen, ohne ein Instrument heranzuziehen. Dabei ist es einerlei in welchem Schlüssel, oder welcher Tonart die Melodie geschrieben ist. Das ganze ist Trainingssache und nicht ohne Mühe zu verinnerlichen, jedoch lohnt es sich, da es, einmal begriffen, eine immense Zeitersparnis beim Erlernen jeglicher Musikstücke bringt und funktioniert auch mit mittelelterlicher Originalnotation (im Vier-, oder Fünfliniensystem). Dabei ist es nicht von Belang, welche Silben man benutzt, und im Moment bleibe ich ganz nostalgisch bei Si statt Ti, da es eigentlich mehr um das Prinzip geht. Evtl. ändere ich das beim Lernen einer Musik, welche viele harmoniefremde Töne enthält... Ist also die alte Hexachord-, und Mutationslehre nun völlig vergebens? NEIN! Speziell im gregorianischen Choral bleibt sie von Bedeutung! Wenn man die Hexachordsilben verinnerlicht hat, erlangt man mit der Übung ein gewisses Gefühl für die Silben innerhalb des musikalischen Zusammenhanges. Wenn z.B. im Dorischen die Finalis (Schlusston) auf Re fällt, und das Musikstück "mutiert", entsteht quasi für eine bestimmte Dauer des Stückes eine neue Finalis und damit ein neues "Grundtongefühl". Dann ist die Silbe dafür wieder ein Re - dies wird durch die "neue Solmisation" außer Kraft gesetzt, da dann für den gleichen Ton z.B. die Silben Do, Sol, La oder Mi sein können. Die sensible Halbtonstufe Mi/Fa heißt dann evtl. auf einmal Si/Do. Mein persönliches Ergebnis: - wenn es darum geht, einen unbekannten Gesang möglichst schnell und unkompliziert zu erlernen, dann ist die Solmisation innerhalb der Oktave mit der 7.Silbe Si (Ti) unschlagbar - um die "Essenz" eines alten Chorales zu verstehen, seine Bewegungen und Spannungsbögen zu erfühlen, dann geht nichts über die alte Hexachordlehre Das spielt aber bei Gesängen innerhalb eines Hexachordes (Johannes Hymnus) keine Rolle, da nicht mutiert wird. Insofern ist das Üben des Hymnus wie eh und je eine Grundvoraussetzung zum Verstehen und Weiterführen in beiden Systemen. Ich persönlich möchte im Moment primär die neuere Variante weiter ausbauen, und mich dann mal daran machen mich wieder von den Silben zu lösen. Das wäre ein nächster Schritt, wobei ich zuerst auf neutrale Silben (z.B. dü, dü oder no, no) singe, und dann schlussendlich direkt vom Notenblatt auf den Text, denn die Silben sollen kein System um seiner selbst darstellen... Das Hexachordsystem gebrauche ich aber weiterhin zur musikalischen Vertiefung. ...ach hätt ich's doch nur schon als Kind gelernt... :rolleyes:
 

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