Thomas W.
Moderator
"Mittelaltermarkt in Irgendwo. Die zivilen Klamotten sind im Rucksack verstaut, frisch umgezogen und abgetaucht in ferne Zeiten voller Mystik und Zauberei. Ich bitte an dieser Stelle das Fachsymposium um Entschuldigung, ein Fehler hat sich eingeschlichen. Es darf natürlich nicht "umgezogen" heißen, sondern "gewandet". Nachdem ich mich also der scheinbürgerlichen Kostümierung "entwandet" habe, darf ich mich endlich der Zeitreise zuwenden. Ich kaufe einen Krug Zeitreisebeschleuniger , Bier ist bei solcherlei Ausflügen unheimlich nützlich und wirkt quasi wie ein Turbo. Ich entlöhne dem eher mürrisch dreinblickenden Wirt mit obskuren "Goldrandtalern", einer Währung die quasi in Form und Aussehen sehr an den allgemeingültigen EURO erinnert. Nur eben der Wert nicht. Die rasende Inflation ist speziell auf Märkten dieser Art sehr deutlich spürbar. Besonders bei den Bier -und Essenspreisen. Nebenan steht Robin Hood. Er kaut lasziv an einem Pappteller mit Kartoffelpfanne und scheint in Fachgespräche verwickelt. Sein langer Sportbogen vom "Frankonia- Versand" hängt locker um seine schmalen, goldhamsterimitatverbrämten Schultern. Ein riesiger Hornbrillen- Sichtverstärkter ziert seine Nase, unheilschwanger drohender Adlerblick gleich der Kampfvisierung des deutschen Spähpanzers "Luchs". Daher also auch die Bundeswehrstiefel an seinen Füßen. Fünf plastikbefiederte Pfeile ragen wie Stachel aus seinem Köcher. Robin wird auch nicht jünger. Das Wikingerschwert vom Typ "Otze Schildbeißer" an seinem Gürtel verleiht dem Gesamtbild des unberechenbaren Guerillero aus Sherwood Forest den letzten Schliff. Man hat mich bereits visiert und gescannt, was den Fachgesprächen allerdings keinen Abbruch tut. Sein Freund, ein verwachsener, bartloser "Tempelritter", dessen gepflegt nach Perwoll duftender, bettlakener Waffenrock verwegen im lauen Winde flattert grüßt erhaben mit sanftmütiger Geste über den Thresen. Ich nicke zurück. Wortfetzen wechseln zwischen den Beiden hin und her... "Antiochia" kann ich entschlüsseln und auch "Löwenherz" und "wikingische Söldner". Zwischendurch höre ich das ständige leise Rasseln seines Aluminiumkettenhemdes und sehe den Widerschein der Sonne gefährlich auf der blanken Schneide seines Schaukampfschwertes widerscheinen, welches achtungheischend an seinem Gewande klemmt. Die dickliche Frau des Ordensmannes liegt handzahm an seiner Schulter. Ich beschließe, mich dem Fachgespräch abzuwenden. Wenige Meter weiter rücken Wikingertruppen vor und beginnen ihre Mannschaftszelte aufzubauen. Sie haben Bärte und Fellmützen, es müssen also Wikinger sein. Sie wirken gehetzt und entkräftet von ihrer langen , abenteuerlichen Anreise aus dem alten Wikingerstammsitz, dem Vogtland. Ich beschließe meine Wege fortzusetzen und treffe auf eine Horde Piraten mit Entersäbeln und Dekopistolen, die es sich in ihrem juteumwundenen Partypavillon bereits gemütlich gemacht haben. Ihre Köpfe zieren blutrote Binden mit historisch korrekt handangebrachten Kunst- Rastas, welche wohl als Erkennungszeichen der Zunft dienen. Ein historisches Tonabspielgerät donnert Aufnahmen der berüchtigten Spielleute "Fearless *******s from Hell"in die Landschaft. Ihre Smash-Hits "At Anus Mundi" und "Heidideldumm, die Pest geht um" lodern wie ein Fanal über dem Platz. Über allem weht stolz und frei der "Jolly Roger". Zwischendurch tönen selbstdargebrachte Lieder mit "Joho"- Gesängen, klarer Hinweis auf maritime Zusammenhänge und natürlich der fast schon legendäre Schlachtruf "Glas voll Dreheck, Glas voll Dreheck!" Echt schön, mal wieder ins Mittelalter abtauchen zu dürfen. Rückreise zur Taverne. Die Gäste haben mittlerweile gewechselt, das heißt , nicht ganz, aber fast. Robin Hood ist mittlerweile zu seiner Zweitdarstellung übergegangen und hat sich umgewandet. Die Rolle des schottischen Freiheitskämpfers Gerd Dragon von Mc Culloch steht ihm hervorragend. Ein neuer Fachpartner ist mittlerweile auch vor Ort. Der Großinquisitor Johann Hieronymorus vom Rabenzwinger, dessen Vorfahren natürlich auch schon als Inqusitoren in der Duisburger Gegend aktiv waren, hält stolzgeschwellter Brust und mit gezücktem Methorn einen einseitigen Dialog über das Christentum als Solches, die heilige Jungfrau und Martin Luther. Gerd Dragon von Mc Culloch ist dagegen. Das Christentum zu verherrlichen sei unter aller Kanone und ginge ja mal gar nicht. Stau vor der Bühne. Ein Lichtdom, gleich dem Nürnberger Parteitag zerreißt den Himmel. Gewandetes Publikum, Gäste, die ihr gesamtes Bettzeug umgenäht haben um zwei Euro Eintritt zu sparen, stehen johlend vor der Bühne , um Ohren- und Augenzeugen des groß angekündigten "Sängerkrieges" und "Bandcontests" zu werden, in welchem sich die musizierenden Szenegrößen quasi die Klinke in die Hand geben. Beim Konzert des Openers "Ars Inter Musica Gerendi", deren infernalische Sackpfeifenklänge den Stand des ersten Markthandwerkers in Trümmer legen, tobt bereits der Mob. Sechzig handbemalte IKEA- Blumentöpfe mit Blumendekor und mehr als zehn selbst zusammengeklebte Holzlaternen fallen der tanzenden Meute zum Opfer. Als zweiter Act des Abends folgen die berühmten Spielleute "Ars Dictaminis Dies Postmeridianus" verliert das Publikum auch den letzten Respekt vor Gut, Leib und Leben. Selbst alte Szene -Urgesteine verbünden sich mit dem Eintritt zahlenden Pöbel und tanzen wie der Teufel. Nach einstündigem Dudelsackterror fällt das tanzwütige Volk in der Taverne ein, während auf der Bühne der Umbau stattfindet. Ein neues Bandbanner wird aufgehangen. Das zechende Volk erstarrt vor Ehrfurcht und Erinnerung an die guten, alten Markttage. "Ars Pillepalle Satanii Rex Recorum" prangt der leuchtende Neonschriftzug von der frisch aufgehangenen Plastikplane. Eine der ganz großen Kapellen. Die Eisenhüttenstädter Jungs und Mädels betreten die Bühne , Applaus brandet auf. Der elektronische Dudelsack feuert wilde Stakkatos ins Publikum, die bunten Irokesenfrisuren der Musikusse nicken rythmisch zum Massaker der acht Trommler an ihren gigantischen Schlagzeugen. Die aus Putzlederlappen gefertigten Gewänder wippen beim überdimensionalen Wutklingen der Fußschellen. Die zwei Stromgitarristen lassen ihre Instrumente aufheulen... Die Masse tobt vor der Bühne, wiederum gehen mehrere Handwerkerstände ihrem Untergang entgegen. Die historische Gabelbiegerin und der Schwert- Entöler verlieren Hab und Gut. "Ars Pillepalle Satanii Rex Recorum" rumpeln unentwegt weiter, immer dem musikalischen Olymp entgegen. Die Band, 2004 gegründet von ehemaligen Mitgliedern der Gruppen "Ars Brimborium Rabanus Raban" , "Löffelholz", "Ars Drachenheymr Mystica Extendum", "Wolfenhorns Erben" und den Blackmetal-Legenden "Zwergenwut" spielen, bis die Fetzen von den Klampfen hängen. Als Zugabe an die völlig erschöpfte Masse wird Akkustikklang vom Allerfeinste geboten. Mit Liedern wie "Was haben wir getrunken, 18 Jahre lang", "Saufen, saufen, jeden Tag nur saufen", oder " Tavernenmann , du Schweinebacke", werden mittelalterliche Klassiker des berühmten Minnesängers Walther von der Schweineöde wiedergegeben. Das anwesende Volk ist hingerissen vom romantischen Machwerk des Dichterfürsten. Der Jubel und die Bravorufe wollen nicht enden. Die zwischenzeitlich immer dicht gedrängteren Besuchermassen setzen erneut zum Sturm auf die einzige Taverne des Platzes an, in welcher sich der Wirt und seine Spießgesellen vorsorglich verschanzt haben. Das Bier ist bereits seit Zwanzig Uhr Fünfzehn alle, die Volksmassen schleifen den Laden bis auf die Grundmauern. Nur der vorzeitige Einsatz des Headliners auf der Bühne kann den Platz vor größeren Schäden bewahren. Punkt zehn betreten die Giganten der historischen Volksmusik die Bretter. "Anas Platyrhynchos" entsteigen der roten Höllenflut der Bühnenlichter und dem schwarzen Nebel. Zwanzig Dudelsäcke, siebzig Trommler und vier Hiphop- Tonkünstler setzen dazu an, das Fegefeuer auf Erden zu fabrizieren. Ungebremster Terror. Das Publikum rastes restlos aus. Die Wikinger gröhlen den Piraten zu, welche Zündplättchensalven aus ihren Dekowaffen abfeuern, der Inqusitor hält knutschend die dickbusige Frau von der historischen Maschinenstickerei im Arm, der Eisverkäufer gibt Freirunden, der Besitzer vom historischen Kaffeestand macht Happy Hour. Und alle kommen aus ihren Ständen um zu feiern. Da ist Siegbert vom Rabenstein, der Reichsgraf Hunwald vom Drachenberge, Gerold von Hinterladingen, der arme Ritter Reginald Gerald de Truvoire e Lisagne Bordeaux, der Wikingerfürst Grimbald Gernotsdaughter, Prinzessin Libella von Rosarien, der Narr und Spaßverteiler "Ambholdarius der Bekloppte". Alle mit Rang und Namen , in Marktwürden und frei. Mit den immer weiter aufflammenden Hits der gekrönten Publikumslieblinge von "Anas Platyrhynchos" und dem parallel zunehmenden Alkoholpegel der Massen steigt auch die Leichtfertigkeit und die Lebensfreude des anwesenden Volkes. Beim Abspielen des Mittelalterkrachers "Totus Deflorio" verliert König Theobaldus vom Eichelberg vollends die Kontrolle über sich und seine selbstgeplattnerte, vierzig Kilo schwere Prunkrüstung, welche er dareinst aus den Überresten eines "Wartburg- Tourist" gedengelt hatte. Mit Wagemut und ritterlicher Tapferkeit setzt er zum Stagediving auf die in Schildkrötenformation vor der Bühne angetretene Normannensippe "Les Randalieurs" an. Während seines Sprunges stellt er jedoch fest, daß es sich bei seinem Ziel nicht um selbige Normannenfamilie handelt, sondern um ein Notstromaggregat der Marke CANNON G5. Der darauf folgende Kurzschluß, verursacht durch seine stählernen, mit Kupferdraht umwickelten Beinschützer, beendet den kulturvollen Abend und macht das weitere Abspielen mittelalterlicher Musik völlig unmöglich... Das Volk geht zu Bett. Ich auch. Schön ists im Mittelalter..." Gefunden bei In Foro - Städtisches Leben um 1300 auf Facebook. Text ursprünglich von Torsten Sträter.