Benno
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Vermutlich passt dieser Artikel im Ordensforum am besten. Die Rolle der Religion im Alltag des ausgehenden Hochmittelalters am Niederrhein. Am Ende des 13. Jh. ist der christliche Glaube die einende Kraft in Europa. An der Existenz Gottes wurde so wenig gezweifelt, wie heute jemand auf die Idee käme, an der Existenz der Schwerkraft zu zweifeln. Die Kirche bildete den Mittelpunkt der Gesellschaft. Jede Gruppe, Verbindung oder Gemeinschaft stellte sich unter die Führung und den Schutz der Kirche und damit Gottes. Wer Bürger einer Stadt werden, in jemandes Dienst treten, sich einer Handwerkszunft anschließen oder in einer Dorfgemeinschaft aufgenommen werden wollte, musste nachweisen, dass er rechtgläubig, also katholisch war. Un- bzw. Andersgläubige hatten keine Möglichkeit, Teil der Gesellschaft zu werden. Wer nicht zur Kirche gehörte, der gehörte nirgendwo dazu. Einzeln, ohne den Schutz einer Gemeinschaft war der Mensch nicht lebensfähig. Die Exkommunikation, der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen, war somit ein Todesurteil auf Zeit. Und nicht nur das: Wer exkommuniziert starb, für den blieb nur die Hölle. Nur vor diesem Hintergrund kann verstanden werden, warum praktisch niemand den freiwilligen Verzicht auf Gott und Kirche auch nur in Erwägung zog. In die Kirche ging man beileibe nicht nur zum Gottesdienst. Hier traf man sich und tauschte die neuesten Nachrichten aus. Hier wurden Pläne geschmiedet, Geschäfte gemacht und Ehen vereinbart. Hier bat man Gott und die Heiligen um Rat und Hilfe bei den kleinen und großen Problemen des Lebens. Man feierte gemeinsam die kirchlichen Feste, von denen der mittelalterliche Kalender an die 100 Stück kennt, betete gemeinsam für das Seelenheil verstorbener Angehöriger, und dankte gemeinsam dem Schöpfer, für das, was man hatte. So wurde das Christentum zum Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhielt. Der Kirchplatz bildet im Früh- und beginnenden Hochmittelalter noch den Mittelpunkt einer jeden Siedlung. Erst mit dem gleichzeitigen Aufblühen von Städten und Fernhandel im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter musste er diese Position mit dem Marktplatz teilen. Diese Funktion des Gotteshauses als zentraler Treff- und Kontaktpunkt trieb in manchen großen Städten aus heutiger Sicht eigenartige Blüten. So wurden Verkaufsbuden nicht nur von außen an die Mauern und zwischen die Strebepfeiler der Kirche gebaut, sogar im Inneren, konnte man fast alle arten von Händlern, Krämern und Wanderhandwerkern treffen, die ihre Waren und Dienstleistungen anboten. In einigen Städten wird sogar von Huren berichtet, die ganz selbstverständlich innerhalb der Kirche nach Kundschaft suchten. Aus Paris ist eine Aufforderung aus dem 15. Jhdt. an die Bürger erhalten, in der darum gebeten wird, wenigstens während der Messen keine Pferde- und Ochsengespanne (!) durch die Kathedrale Notre Dame zu fahren. Was nach den Maßstäben unserer Zeit Gotteslästerung wäre, war damals einfach das Zeichen einer sehr großen, wenn auch recht naiven, Volksfrömmigkeit. Diese Menschen wollten Gott bei allem was sie Taten möglichst nahe sein. Das Christentum war von Anfang an eine Religion der Armen gewesen. Es stellte eine Art sozialen Kontrast zur stark hierarchisch geprägten Feudalgesellschaft dar, in der die Menschen lebten. Wenn schon nicht in der Ständehierarchie, so war doch wenigstens vor Gott im Prinzip jeder Mensch gleich. Zum Heiligen konnte der Bettler genau so gut werden, wie der König. Und mehr als das: Spätestens seit der Bewegung der Bettelmönchs-Orden galt Armut als höchstes Christliches Ideal. Wer Arm lebte, wie die Apostel, hatte gewissermaßen von Natur aus ein besseres Verhältnis zu Christus. Der Reiche und Mächtige galt als Gott ferner und musste daher mehr für sein Seelenheil tun. So erfüllte der christliche Glaube gleich zwei wichtige Funktionen: Zum einen gab das Christentum den unteren Schichten der Gesellschaft Hoffnung. Wer Glaubt, dass Gott die Gerechten im Jenseits belohnt, dem fällt es leichter die Unbilden des Alltags zu ertragen. Die Hoffnung auf das Himmelreich gab den einfachen Menschen in schwierigen Zeiten Trost und Halt. Zum anderen Hatte das Ideal der Nächstenliebe im Christentum einen wesentlich höheren Stellenwert, als bei den Germanischen, Keltischen oder Römischen Vorgängerreligionen. Durch Mildtätigkeit konnte der Reiche und Mächtige sein Seelenheil verbessern, und so wurde die Sorge für Bedürftige zu einer Selbstverständlichkeit. Man spendete Geld an wohltätige Einrichtungen und Gemeinschaften, gab Armen ein Almosen, nahm Reisende auf, wer es sich leisten konnte stiftete gleich ganze Armenküchen oder Spitäler. Der Arme war aber nicht bloßer Empfänger, sondern er hatte eine Gegenleistung zu geben: Sein Gebet. Man glaubte, dass Gott für die Gebete der Armen ein offeneres Ohr hatte, als für die Bitten der Reichen. So hatten beide Seiten etwas von der Mildtätigkeit: Der Arme bekam Hilfe und verbesserte seinerseits die Aussichten des Gebers auf einen Platz im Himmel indem er für sein Seelenheil Betete. Durch diesen Kunstgriff bekam der Arme mit seinem Gebet ein Handelsgut in die Hand, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Zudem wirkte der Glaube an die größere Gottesnähe armer Leute, der gesellschaftlichen Ächtung ebendieser entgegen. Die Hauptaufgabe des Pfarrers in der Gemeinde war neben dem Feiern des Gottesdienstes die Seelsorge. Bei ihm konnten die Menschen sich ihre Sorgen und Ängste von der Seele reden. Er schlichtete Streitigkeiten zwischen Nachbarn, gab Rat und spendete in schwierigen Lebenslagen Trost. Die Beichte diente dazu, durch das Offenlegen seiner Sünden und die vom Beichtvater verordnete Buße, Vergebung vor Gott zu erlangen. Zudem gab sie den Menschen aber auch die Gelegenheit, regelmäßig mit jemandem zu reden, dem sie dank des Beichtgeheimnisses absolut alles erzählen konnten und der außerdem speziell für den Umgang mit Menschen ausgebildet war. In der Pfarrschule konnten, besonders in den Städten, auch die Kinder der weniger Wohlhabenden Lesen, Schreiben und Mathematik lernen, sofern ihre Eltern das für notwendig hielten. Für die einfache Landbevölkerung war es allerdings wichtiger, alles Nötige über Getreideanbau, Viehzucht und Wetter zu lernen, idealer weise noch einige handwerkliche Fähigkeiten. Lesen und Schreiben waren Fähigkeiten, die im Bäuerlichen Alltag einfach nicht benötigt wurden. Die christliche Glaubenslehre ist bis heute die Grundlage unserer ethischen und moralischen Wertvorstellungen. Viele Gesetze und Rechtssammlungen des Mittelalters, im 13. Jhdt sind hier im Reich vor Allem der Sachsenspiegel und der bayrische Landfrieden zu nennen, berufen sich auf die Bibel als Grundlage und Beleg für ihre Rechtmäßigkeit und Gültigkeit. Wenigstens vor Gott waren die Menschen gleich und obwohl die Bibel sagte, man solle sich dem Herren, den Gott im Diesseits als Prüfung über einen gesetzt hatte, unterordnen, hatte das Christentum den Menschen doch eine Reihe neuer Rechte gebracht, die 1000 Jahre zuvor undenkbar gewesen wären. So war zum Beispiel die Sklaverei abgeschafft worden (zumindest die von Christen. Für die Menschenrechte Andersgläubiger fühlte sich die Kirche nicht zuständig). Leibeigene wurden zwar immer noch als „Besitz“ ihres Herrn betrachtet, aber im Gegensatz zu Sklaven, war ihr Herr verpflichtet, für sie zu sorgen. Wer einen Sklaven tötete, galt als Sachbeschädiger. Wer einen Leibeigenen tötete, war auch in den Augen seiner Zeitgenossen ein Mörder. Auch wenn derartige Vorfälle praktisch nie zur Anzeige kamen, musste der Täter doch mit Höllenstrafen rechnen. Und im Gegensatz zu Heute war diese Angst damals ziemlich real und übte großen Einfluss auf das Handeln der Menschen aus. Natürlich waren die Menschen des 13. Jhdt. nicht weniger geschickt darin als wir heute, ethische und moralische Regeln nach ihren Bedürfnissen zu beugen und zu umgehen. Ausreden und Rechtfertigungen für das eigene Fehlverhalten finden sich je nach Bedarf zu jeder Zeit und in jeder Kultur. Es ist allerdings bemerkenswert, dass der Glaube an das göttliche Gericht am jüngsten Tag in der Mehrzahl der Fälle stark genug war, um selbst einen Mörder davon abzuhalten, vor Gericht einen falschen Eid auf Gott und die Bibel zu schwören, selbst wenn er dadurch straffrei davon gekommen wäre.
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