Heidensohn
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Dieses Wochenende war ich mit meiner Grobmittelaltergruppe auf einem kleinen lokalen Mittelaltermarkt. Alles sehr bunt gemischt, viele alte Bekannte, kaum besonderen historischen Anspruch. "Unterhaltungsmittelalter" eben - sowohl für die Aktiven, als auch für die Besucher. Händler waren nur wenige da und die waren auch mehr aus Freundschaft zum Veranstalter gekommen. So weit so gut. In unserem Lager saßen wir wie immer noch lange zusammen und nach und nach kam eine typische - altbekannte - Anekdotenrunde zum Thema "Tourissind sooo blöd" zusammen. Die Üblichen Beispiele wurden erzählt. Das nicht echte Feuer, das nicht echte Zuberwasser, die Nichtexistenz von Bäumen im Mittelalter, natürlich viele scheinbar dumme Fragen... (Ich glaube immer noch nicht daran, dass jeder diese Dinge tatsächlich selbst erlebt hat). Am nächsten Mittag war es nach einem morgendlichen Wolkenbruch unerträglich heiß und schwül. Wir beschlossen kurzerhand, dass Eis jetzteine echte Freude wäre und schickten einen von uns zur nächsten Eisdiele. Er kam mit vielen kleinen Plastikbechern mit Eis und Plastiklöffelchen zurück. Auch wenn wir sehr verstohlen und teilweise hinter den Zelten die Kühlung genossen haben, wurden wir natürlich entdeckt. "So a Eis gabs aber im Middlalder bsdimmd noch ned, oder?" Rief ein älterer Herr mit einem spitzbübischen Lächeln. Die Reaktion von einem Mitlagernden, der abend snoch am die tollsten Touri-Geschichten ausgepackt hatte war in etwa ein laut ausgrufenes "Winter und Keller gab es. Und heiße Sommer auch. Schon die Römer haben..." Ihr könnt euch den Sermon wahrscheinlich vorstellen. Aber er änderte nichts daran, dass wir mit bunten Plastikbechern und Löffeln modernes Speiseeis futterten. Der Besucher hatte schlicht recht gehabt. Eine passendere Antwort (ich war zu langsam und wollte niemanden in den Rücken fallen) wäre ein lächelndes "Da haben Sie schon recht, aber heute ist so heiß, da haben wir uns die Freiheit mal erlaubt zur Eisdiele zu gehen. Wir sind ja auch nur Menschen von heute. Etwas ähnliches gab es vielleicht sogar. Zumindest in der Antike, aber da müssten auch wir erstmal Experten fragen." Um das mit den Touri-Anekdoten zu verknüpfen: Wer Besuchern vom Schwarzen Ritter, von Taschendrachen und Handgeklapper erzählt, ihnen für sie offensichtlich unpassende Dinge nicht rational, sondern mit lustigen Geschichten erklärt, der braucht sich doch nicht zu wundern, dass seine Aussagen generell als Show, als Maskerade gewertet werden. Wer dreimal lügt dem glaubt man nicht, hieß es bei uns auf dem Dorf immer. Und Besucher haben keine Möglichkeiten zwischen diesen ganzen Leuten auf diesen komischen Festen zu differenzieren. Wenn mir auf solchen Festen immer nur lustige Geschichten und offensichtliches (manchmal auch gutes) Blendwerk vorgesetzt wird, dann werde ich natürlich kritisch und lasse mir von den unterhaltsamen Clowns nicht so leicht was sagen. Die wenigsten von uns sind so gute Redner/Schauspieler/Schaukämpfer, wie sie glauben. Und die wenigsten Menschen sind so schlau wie sie glauben. Aber haben wir (böse Verallgemeinerung, ich weiß) mit unserem eigenen Verhalten das, was als Touri-Anekdote kursiert nicht geradezu provoziert? Wer einem interessierten, aber ahnungslosen Touri den Trebuche als Folterwerkzeug erklärt, um sich zu amüsieren und vor den eigenen Freunden zu profilieren, der hat jedes Recht verloren sich darüber aufzuregen oder den Besucher herabzusetzen, der beim nächsten Mal triumphierend mit dem Zeigefinger auf die Schwerter zeigt und ruft "Die sind aber nicht echt, was?", weil er die zerbeulte 3mm-Schlagkante gesehen hat. Und ganz davon abgesehen: Was für ein Niveau ist es bitte sich jahrelang (jahrzehntelang?) über dieselben eigentlich für sich selbst beschämenden Geschichten zu amüsieren? Das mal so als Denkanstoß. Ich will hier jetzt ausdrücklich keine Sammlung der üblichen (oder gar neuer) Anekdoten lesen, die belegen, dass Touris wirklich blöd sein können. Nein, das braucht keiner. - Außer mit Reflektion, warum der Besucher das gefragt haben könnte und vielleicht Selbstkritik, wie man selbst ein solchen Fragen zugrunde liegendes Bild in anderen Situationen bestärkt haben könnte. Sebastian - glaubt daran, dass man die Welt verbessern kann