Ich glaube eigentlich gar nicht, daß eine zunehmende Spezialisierung schon den Anfang von "Wissensverlust" bedeutet. Eher im Gegenteil. Ich denke eher, daß zunehmende Spezialisierung neue Entdeckungen überhaupt erst ermöglicht. Wenn Heron von Alexandria sich nicht auf die Beobachtung von Gestirnen und mechanische Basteleien spezialisiert hätte, sondern nebenbei noch seine Schafe scheren, seine Felder bewässern, seine Holzlöffel schnitzen, seine Tonkrüge töpfern, seine Pferde zureiten, seine Kühe melken, sein Feuerholz hacken hätte müssen usw., dann wage ich zu behaupten, er hätte die Dampfmaschine nicht erfunden. (Dafür wußte Heron aber wahrscheinlich relativ wenig übers Löffelschnitzen und Schafe scheren. Vermute ich jetzt mal.) Die Theorie, daß die Kirche eine Verbreitung von Wissen verhindert hätte, halte ich auch für zu kurz gegriffen. Immerhin waren schreibkundige Mönche in Klöstern doch lange Zeit fast die einzigen, die Kenntnisse aus der Antike aktiv bewahrten (nach bestem Wissen und Gewissen zumindest). Das Problem liegt m.E. darin, daß die schriftlichen Traditionen mit der Machtübernahme durch die "barbari" nach dem Ende des römischen Reiches notgedrungen abreißen. Soweit ich weiß (Beate oder wer sich sonst mit der römischen Kaiserzeit auskennt, bitte korrigieren, falls das falsch ist!), war in Rom die Alphabetisierungsrate auch beim einfachen Volk in den Städten ziemlich hoch. Damit hast du dann halt auch eine breite Masse relativ gut qualifizierte Arbeiter. Das fällt für die "germanischen" Reiche komplett weg. Da kann noch so viel Wissen in noch so tollen Büchern stehen, wenn es niemanden mehr gibt, der die Bücher liest, aufbewahrt und weiter abschreibt, hilft es niemandem. Wie war das denn: Um 500 erobern die Franken unter Chlodwig das alte Gallien und werden sogar christlich. Und 300 Jahre später kann der Frankenkönig Karl immer noch nicht lesen und schreiben. Ist eigentlich schon bezeichnend. Außerdem, glaube ich, sind für die Bewahrung von so spezifischem Wissen auch ein paar äußere Voraussetzungen notwendig. Das klingt jetzt vielleicht zynisch (oder marxistisch), aber Gelehrte, die in großen Wandelhallen vor Publikum ihre Weisheiten verkünden oder in Labors an neuen Weisheiten feilen, müssen erst mal finanziert werden. Riesige Bibliotheken müssen erst einmal beschafft, die Gebäude dafür konstruiert und die Schriften katalogisiert werden. Das kostet jede Menge Geld. Man braucht zahlungskräftige Sponsoren, richtig reiche, richtig mächtige Leute, die richtig viel Geld ausgeben wollen. Eine starke Konzentration von viel Kapital an einem Ort. Aber letztlich kann Wissen wohl nur verloren gehen, wenn es nicht mehr gebraucht wird. Lesen und Schreiben war ganz offensichtlich etwas, das für die "barbari" im täglichen Leben nicht nötig war.