Wenn man die "Neuentdeckung des Mittelalters" in der Romantik, inklusive Erfindung der mediävistischen Germanistik, Ruinenbegeisterung, nationaler Aufbruch (und Suche nach etwas eigenem in Abgrenzung zum römisch-griechischen Ideal), festmacht, dann gibt es so etwas wie eine "Mittelalterszene" seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts: vernetzte Idealisten, die sich für eine ins Mittelalter rückprojizierte Utopie begeistern. Wann genau der Aspekt des Verkleidens in größerem Maße aufkam lässt sich nicht genau sagen, aber ab den 1870er Jahren boomen Freilichttheaterstücke, Festspiele, usw., die eigentlich fast alle historische Themen haben (bevorzugt Mittelalter und 30-jähriger Krieg - in Einzelfällen mit beachtlicher Ausstattungsqualität!). Noch vor oder eher um 1900 werden sich aus einigen dieser Theaterstücke marktähnliche Volksfeste entwickelt haben (spätestens 1903 mit der Landshuter Hochzeit) und zeitgleich kam mit Karl May die Westernbegeisterung auf, von der wir frühe "Cosplay-Beispiele" haben - immerhin verkleidete sich May selbst als Old Shatterhand und ließ sich dessen Waffen anfertigen. Die Grundlagen waren also schon vor 1920 da. Allerdings scheint es so, als wäre der Aspekt des "Nachlebens" und "Nachfühlens" kaum verbreitet. Den würde ich - so fies es klingen mag - dem Einfluss esoterischer und neopagener Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts zuschreiben. Was genau da an möglichen Vorformen vor dem 1. WK gelaufen ist, wäre ein interessantes Forschungsthema. Der Krieg wird da vieles erst einmal unterbrochen haben. Es sind danach die Nationalisten (nicht nur die sozialistischen), die die historistischen Vorkriegselemente aufgreifen, aber Teile der NS-Führung - selbst historistisch-esoterisch-neopagan vorbelastet - erkennen die Möglichkeiten und bringen das ganze auf eine neue Stufe. Spätestens hier wird aus "ein Stück aufführen", "so aussehen wie" und "ein Fest machen" das Ziel "zu sein wie". Krieg unterbindet sowas wohl recht effektiv und die ersten zwanzig Jahre danach wurde in den Zonen, bzw. beiden Deutschländern vorsichtiger Abstand zu Vorbelasteten Dingen gehalten (der historische Bürgerwehrauszug in meiner Heimatstadt konnte erst 1951 wieder stattfinden). Wobei ich glaube, dass die Westernszene sich generell etwas schneller wieder ausbildete. Die späten 60er und 70er bringen dann wieder den "so sein wie"-Aspekt rein und aus zu traditionellen Festen kommen neue Veranstaltungen. Hohe Mobilität und gute Kommunikation sorgt dafür, dass sich neue Ideen schnell ausbreiten, so dass aus ersten Markt- und Turnierversuchen der 70er dann Kaltenberg wird. Im selben Maß, in dem sich die Veranstaltungen ausbreiten, bilden sich an verschiedenen Orten Gruppen von Leuten, die das Besuchen solcher Veranstaltungen als ihr Hobby sehen. Die Markt-Lager-Szene würde ich nicht vor diesem Punkt der 80er ansetzen. Etwa zeitgleich kommen zu einzelnen Folkversuchen in Mittelalterrichtung (Ougenweide, Elstersilberflug) immer mehr speziell auf Märkten spielende Musikgruppen. Die späten 80er und schließlich die 90er zeigen etablierte Veranstaltungen und eine große Tendenz Jubiläen und Stadtfeste als Mittelalterfeste auszugestalten. Man kann inzwischen von Märkten leben und es kommt zu einer Differenzierung zwischen kommerziellen Händlern/Versorgern und darstellendem Handwerk/Musik, sowie hobbyistisch-unreflektiert Lagernden und denen, die schmerzhaft merken, dass ihre Sachen historisch nicht passen. Wenn man so will, ist "die postmoderne Mittelalterszene" ja erst mit diesen Spannungen wirklich komplett. Mit der Jahrtausendwende beginnt die Forenzeit (tempus-vivit!) und durch die nochmal verbesserte Kommunikation beschleunigt sich die Differenzierung (langsames Ende der "Wir sind doch alle Freunde"-Heuchelei) der Szene. Gruppengründungen, -teilungen und -auflösungen werden endgültig unübersichtlich und die Großgruppen sterben praktisch aus. Ein Jahrzehnt später sehe ich einen deutlichen Trend zu individuellen Klein- und Kleinstgruppen auf freundschaftlich-familiärer Ebene, die gut vernetzt für Veranstaltungen spontan größere Verbünde bilden können. Der kommerzielle "Markt-Markt" ist spätestens seit 2005 übersättigt und krankt an Innovationsmangel. Zeitgleich vorgenommene Versuche der Umsetzung als ganzjähriger Park scheiterten oder halten sich nur mit Mühe und ohne größeren Einfluss. Seit der Jahrtausendwende bildete sich der Authentizitätsanspruch umfassend "so zu sein wie" in gewissen Kreisen zu einem bewussten, dafür wissenschaftlich belegten "so aussehen wie" zurück. Das ist alles unbelegt aus dem Kopf geschrieben, aber wie sunce.jelena geschrieben hat: Die Abgrenzungen sind sehr schwierig und Definitionssache. Ich persönlich sehe die jetzt bestehende (oder eher zerfallende) Szene als ein Kind der Mittelaltermärkte, die Hobbyisten eine Plattform und Lagerplatz geben. Damit ist sie ein Kind der späten 70er und frühen 80er Jahre. Durch die Fixierung auf öffentliche Feste unterscheidet sie sich beispielsweise massiv von der Westernszene. Und dieser Schwerpunkt sorgte meiner Ansicht nach auch wesentlich dafür, dass sich Liverollenspiel eigenständig bildete und nicht direkt Teil der breiten Mittelalterszene ist.