Keine Sorge Mattehes, provoziert oder befremdet oder emotional außergewöhnlich belastet fühle - zumindest - ich mich keineswegs. Du hast ja schlichtweg recht. Deine Beobachtung teile ich. Allein, ich kann's nicht ändern und, ehrlich gesagt, ich finde den Umstand auch so dramatisch nicht. Es gibt Gründe dafür, ob nun real oder nur vermutet, und viele dieser (potentiellen) Gründe wurden hier ja auch genannt. Die meisten davon kann ich auch nachvollziehen. Einen möchte ich noch ergänzen, ein Phänomen, das sich generell durch die gesamte Geschichtsbetrachtung, -bewertung und -vermitlung wie ein roter Faden zieht: Die Personifizierung von Geschichte. Wir sagen etwa, Cheops habe eine Pyramide erbaut. Das ist natürlich Blödsinn. Er hat sie weder geplant (das haben seine Baumeister), noch gebaut (das haben seine Untertanen), noch erfunden (das waren seine Vorfahren), noch bezahlt (das waren ebenfalls seine Untertanen), ja, er liegt offenbar noch nicht mal drin! Oder Caesar habe Gallien erobert. Ganz allein, wie Aragorn, mit dem Schwert in der Hand kämpfte er gegen Tausende von Galliern und unterwarf sie. Klar... Und wenn ich höre, dass Adolf Hitler Russland überfiel, dann stelle ich mir auch einen kleinen Mann mit Oberlippenbärtchen, Rambostirnband und MG-Gurten über der Brust vor, der russische Grenzschlagbäume eintritt und die rote Flut mit einem kräftigen janovschen Urschrei vor sich her jagt. Wenn wir an Geschichte denken, dann denken wir automatisch an herausragende Einzelpersonen, die wir symbolisch für ganze Epochen stellen. Woher kommt's? Zum Einen, weil das für unser Denken ganz normal ist. Unser Hirn braucht Kristallisationskeime, um Dinge zu verknüpfen und Gedankenkette entstehen zu lassen. Als einzelnes Individuum können wir uns leichter mit anderen einzelnen Individuen identifizieren. Wir sind in der Regel außerstande, uns mit Massen von Individuen zu identifizieren, weil wir nicht in der Lage sind, parallel viele Gedanken, Meinungen und individuell differierende Veranlagungen zu verarbeiten. Wir haben keinen multiple-core-Prozessor, der dafür nötig wäre. (Ein reales und unterschätztes Problem in der heutigen Gesellschaft übrigens, da jeder meint, die Gesellschaft solle an seinem Wesen genesen und er habe die einzig wahre Meinung. Wenn andere da was anders sehen als ich, dann haben sie höchstwahrscheinlich unrecht. Das macht unsere gesellschaftlichen Parameter wie etwa Gesetze und Politik hochgradig subjektiv, man könnte auch sagen, auf Stammtischniveau, statt der gebotenen, gesamtgesellschaftlichen Objektivität, selbst wenn diese mal als unangenehm empfunden wird. Wegen dieser Unfähigkeit zu rationaler Vernunft haben wir einen ganzen Haufen von blödsinnigen Gesetzen, die mehr schaden als nützen. Aber ich schweife ab...) In der Geschichtsdidaktik ist das Phänomen der Personifizierung ein alter Hut. Historische Abhandlungen über längsschnittliche oder querschnittliche archäologische Befunde ermüden, die Geschichte von Urgh, dem Steinzeitjäger dagegen vermag Kinder zu fesseln. Das ist bei Erwachsenen micht anders, wie auch die Macher von Geschichtsdokus im Fernsehen verstärkt gemerkt zu haben scheinen. Immer öfter erwachen inzwischen die Knochen irgendeines Asservats nachts zum Leben, reisen in der Zeit zurück und zeigen uns, wie das Leben von Harro, dem Sachsen (aus: "Mit Schwert und Kreuz", die Sachsenmission Karls des Großen) ausgesehen haben könnte. Jetzt könnte man einwenden, Person sei doch Person und warum nun finde man - Beispiel-Harro ist doch schließlich auch ein einfacher Mann - bei dieser Personifizierung keinen anteilskorrekten gesellschaftlichen Querschnitt? Genau das ist ja auch mehr oder weniger die Eingangsfrage, speziell auf den Bereich der Personifizierung im Rahmen der LH (denn genau das machen wir: wir personifizieren) bezogen. Die Antwort ist ganz einfach: Weil die Überlieferungen aus der Geschichte, wie oben erwähnt, eben auch keinen repräsentativen, gesellschaftlichen Querschnitt wiederspiegeln. Wir kennen die Vita Karls, nicht die von Harro. Kalle wurde überliefert, weil er wichtig war. Harro nicht. Wir kennen nur die Großkopfeten. Wir sind nur an sie gewöhnt, daran, dass sie unser Geschichtsbild beherrschen. Woran denkst Du bei 800 AD? Klar: Kaiserkrönung in Rom. Nicht aber daran, dass irgendwo in Europa Tausende Namenlose geboren wurden, glücklich waren, traurig waren, starben. Das hat noch nicht einmal was mit Absicht zu tun, wir sind schlicht geistig so gepolt, das liegt in unserer Natur. Caesar war in toller Hecht. Von wem wissen wir das? Richtig: Caesar. Ramses war ein toller Hecht. Von wem wissen wir das? Richtig: Ramses. Dass er mit Ach und Krach lebend aus einer verkorksten Schlacht rauskam, hat er geschickt vertuscht und sich zum strahlenden Soeger dieser Schlacht stilisiert. Wir wissen das und trotzdem sind wir überzeugt, er war ein toller Hecht. Wir wollen uns geradezu bescheißen lassen, soweit geht unser Personifizierungsdrang. Wir wollen strahlende Helden, schillernde Persönlichkeiten. Entweder Schwarz oder weiß, Gut oder Böse. Hitler war ein Dämon, Napoleon eine Lichtgestalt. Wir brauchen das. Die Farbe Grau ist in unserem Denken unterentwickelt. Und grau ist nun mal die breite, namenlose Masse. Die interessiert uns nicht wirklich. Tragisch, wie Maria Stuart starb. Sie war in diesem Jahr aber nicht die Einzige in England. Stalin hat einmal gesagt: "Ein Tod ist eine Tragödie. Eine Million Tote sind Statistik." Der Mann war Profi. Wir ticken so. Wir kennen nur die, die überliefert sind und das sind nun mal die oben auf der Leiter. Von den anderen nehmen wir beiläufig zur Kenntnis, dass es da auch noch welche gab. Bestenfalls. Das reicht. Und jetzt eben mein Fazit: Warum sollte das ausgerechnet auf Mittelaltermärkten anders sein?