In früheren Zeiten bin ich viel umhergereist und habe überall Märchen erzählt. Sowohl in edlen Palästen als auch in entlegenen Karawanserails und heruntergekommenen Herbergen bin ich eingekehrt. In einer Kaschemme wurde ich von Flöh überfallen, von denen einer so dick war wie eine Kuh. Als a auf mich zukam, knarrten die Dielen. Ich fing ihn und sattelte ihn, konnte ich doch ein Reittier gut gebrauchen. Da aber riß das Halfter, und der Floh floh. Ich holte ihn ein, packte ihn am Zahn und zog ihm das Fell über die Ohren. Ich nähte mir ein Zelt daraus, so groß, daß sechzig Mann darunter Platz fanden. Es war einmal, es war keinmal. In einer früheren Zeit, eins anderen als der unseren, lebten ein Mann und eine Frau mit ihrer gutherzigen und schönen Tochter, die die beiden ins liebten. Eines Tages ging das Mädchen mit zwei Kupfergefäßen zum Wasserholen. Ein Vogel flog herbei und setzte sich auf den Rand des Brunnens. »Ach, Mädchen! « sprach er. »Vierzig Tage wirst du bei einem Toten Wache halten.« Das Mädchen erschrak sehr. Am nächsten Tag kam der Vogel wieder und sagte das gleiche und am übernächsten auch. Schließlich erzählte das Mädchen ihren Eltern davon. Diese waren sehr bestürzt. Ein Unglück wird über unsere Tochter hereinbrechen. Laßt uns an einen anderen Ort ziehen, wo der Vogel uns nicht finden kann«, sagten sie und packten ihre Sachen zusammen. Nach einer langen und beschwerlichen Wanderung kamen die drei in ein Land, von dem sie nie zuvor gehört hatten. Es war Herbst, und es dämmerte früh. In der hereinbrechenden Dunkelheit erblickten sie ein Haus und beschlossen, dort zu fragen, ob sie Obdach für die Nacht bekämen. Doch das Haus war verlassen und das Eingangstor fest verschlossen. Also schlugen sie sich daneben ein Lager auf. Während die Eltern ein bescheidenes Mahl zubereiteten, ging das Mädchen noch einmal zum Eingangstor. Ganz leicht nur drückte sie auf die Klinke, und, o Wunder, das Tor öffnete sich. Das Mädchen trat ein, und hinter ihr fiel das Tor ins Schloß. Sie stieg die Treppe hinauf und öffnete eine Tür. In dem Zimmer vor ihr lag ein Toter auf einer Bettstatt, neben ihm standen eine Schüssel und eine Kanne. »Der Vogel hatte recht«, dachte das Mädchen. »Dies ist mein Schicksal.« Die Eltern ließen, nichts unversucht, um das Tor zu öffnen. doch ohne Erfolg. Das Mädchen erzählte ihnen vom Fenster aus, was sich zugetragen und was sie drinnen vorgefunden hatte. Da klagten und weinten die Eltern und rauften sich die Haare, bis sie schließlich einsahen, daß gegen das Schicksal nichts auszurichten war, und nach Hause zurückkehrten. Das Mädchen setzte sich ans Kopfende des Totenlagers und begann mit der Wache. Das Wetter war trübe. Oft saß das Mädchen am Fenster und schaute gedankenverloren in den strömenden Regen. Jeden Morgen fegte sie das Haus aus. wischte den Staub, wechselte das Wasser in der Kanne, setzte sich dann auf ihren Platz neben dem Toten und wachte und wartete. Und wartete und wachte. So vergingen etliche Tage_ Man kann sich vorstellen, daß es kein Vergnügen war, bei einem Toten Wache zu halten, schon gar nicht vierzig Tage lang und ohne zu schlafen. Die Zeit schien stillzustehen, und eine gähnende Langeweile nahm von dem Mädchen Besitz. Bald hatte sie jegliches Gefühl für die Zeit verloren und wußte nicht mehr, ob sie seit drei, dreizehn oder dreißig Tagen wachte. Wie freute sie sich da, als sie einmal ganz und gar unverhofft eine Dienstmagd an dem Haus vorübergehen sah. »Wirst du mir Gesellschaft leisten? « fragte sie. >,Als Lohn bekommst du meine goldene Halskette.« Die Dienstmagd willigte ein. Sie hatte nämlich gerade ihre Stelle verloren und suchte eine neue. An einem Seil gelangte sie nach oben in das Zimmer. Nun wurde, Gott sei dank, die Zeit kürzer und die Totenwache erträglicher. Nach wie vor fegte das schöne Mädchen das Haus, füllte täglich die Kanne mit frischem Wasser und hielt Wache. Eines Tages - daß es der vierzigste war, wußte das Mädchen nicht - übermannte sie die Müdigkeit mit einer solchen Wucht, daß sie die Augen einfach nicht mehr offenhalten konnte. »Setz du dich kurz zu dem Toten«, bat sie die Dienstmagd. »Ich will mich ein wenig ausruhen.« Die beiden tauschten die Plätze. Kaum hatte das Mädchen dem Druck ihrer Lider nachgegeben, versank sie in einen abgrundtiefen Schlaf. Während sie schlief, ging der vierzigste Tag zu Ende, und der Tote erwachte. Er war ein ansehnlicher junger Mann und der Sohn eines Fürsten. Die Dienstmagd go Wasser aus der Kanne in die Schüssel, und der Wiedererwachte wusch sich. »Hast du die ganze Zeit über bei mir Wache gehalten? « fragte er sie. »Ja, das habe ich«, antwortete sie und spielte mit der goldenen Halskette. »Die andere, die dort schläft, ist meine Dienstmagd.« Der Jüngling hatte einen bösen Fluch auf sich geladen, der nun durch die vierzigtägige Totenwache abgegolten war, und hatte geschworen, diejenige, die bei ihm wachen würde, zur Frau zu nehmen. Als das schöne Mädchen die Augen öffnete, wußte sie sofort, daß ihre Dienstmagd sie betrogen hatte. Aber auch dies sah sie als Teil ihres bösen Schicksals an und schwieg. Eigentlich hätte sie widersprechen und alles erzählen sollen - aber wer weiß, was dann geschehen wäre. So kam es, daß die Dienstmagd Herrin und die Herrin Dienstmagd wurde. An sich wäre gegen einen solchen Tausch kaum irgend etwas einzuwenden, geschieht so etwas doch viel zu selten. In diesem Fall jedoch war es ein himmelschreiendes Unrecht. Nun, Unrecht gibt es viel, und vieles davon bleibt ohne Sühne.
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