Der letzte Beitrag ist zwar schon ewig lange her, aber ein paar Dinge fallen mir zu der ursprünglichen Fragestellung ein: Mit der Musik ist es für mich wie mit allem in der historischen Darstellung: Wie viel A drin steckt ist jedem voll und ganz selbst überlassen - NUR darf man natürlich nichts falschem Etikett verkaufen. Soll heißen: Wenn man sich konkret "Mittelalter" auf die Fahne schreibt, dann sollte da auch einige Recherche und Authentizität dahinter stecken - genau wie in jedem Bereich. Ich persönlich kriege das kalte Kotzen, wenn ich eine echt tolle Truppe sehe, die schöne selbstgemachte historische Kleider trägt, tolle historische Ausrüstung benutzt, sich kurzum gut auskennt und einen hohen A-Anspruch hat, dann aber abends Akkorde auf der Gitarre schrammelt und irgendeinen Schmarn von Elfen und Zwergen singt (um mal ein Extrem-Beispiel zu kreieren). Ich habe an völlig unhistorischen Bands wie dem Duivelspack durchaus meinen Spaß, aber die behaupten ja auch nicht "Mittelalter-Musik" zu machen (wenn ich mich nicht völlig täusche). Aber zum Interpretationsspielraum: Eine Dozentin von mir (bei der ich ein tolles Seminar zu Sangspruchdichtung und Meistersang hatte) vertritt die Auffassung, dass Varianz der Lieder fester Bestandteil der Aufführungspraxis gewesen sein könnte. Sehr sehr viele Lieder sind uns ja aus mehreren Handschriften bekannt, und hier ist es die verschwindend geringe Ausnahme wenn der Text in mehreren Quellen identisch ist. Bislang war die Forschung immer davon ausgegangen, dass es "die eine" Autorfassung gegeben haben muss, die man aus den verschiedenen Quellen rekonstruieren müsste. Die Quellen wären dann also deshalb unterschiedlich, weil die jeweiligen Schreiber subjektiv ausgewählt, verändert und/oder Fehler gemacht haben. Ebenso könnte es aber eben sein, dass der Autor selbst das Lied immer wieder verändert und an Situation und Publikum angepasst hat. Durch die Auswahl an verschiedenen Strophen könnten z.B. auch jeweils andere Schwerpunkte gesetzt worden sein. Das würde vom Konzept her auch gut zu der mitlerweile verbreiteten und wissenschaftlich ziemlich anerkannten Auffassung passen, dass in den erhaltenen Noten deshalb keine Rhythmik verzeichnet ist, weil es keine gab (sprich: weil man improvisierte, sich mehr an Redefluss und logischer Satzstruktur orientierte wie beim modernen Gedichtvortrag), wobei man früher auch hier davon ausging, dass die Menschen dazu einfach noch nicht in der Lage gewesen wären. Wenn man also in beiden Bereichen (Text und Rhythmik) von einer absichtlichen und fest konzipierten Varianz ausgeht, dann spricht man den Menschen im Mittelalter einiges mehr an Kunstfertigkeit zu als in den traditionellen Modellen, die eher von Unfähigkeit und Fehlern ausgehen.