Hier mal der Text der HP Das Pilgerwesen gehört zu den bedeutendsten Phänomenen der mittelalterlichen Religiosität. Ohne Unterschied von Stand, Herkunft und Bildung ergriffen alle den Pilgerstab: Arme und Reiche, Kleriker wie Bauern, Könige ebenso wie Gelehrte, Männer, Frauen und Kinder. Wir können davon ausgehen, daß fast jedermann im Hoch und Spätmittelalter, je nach Stand und Vermögen, Abkömmlichkeit und Devotion, mindestens einmal in seinem Leben eine Pilgerfahrt zu einem ferneren oder nahegelegenen Heiligtum unternommen hat. Ursprünglich meint "peregrinus" den Fremden, jenen, der in der Fremde sein Heil sucht. In biblischer Tradition gilt Abraham, der von seiner Heimat Ur in Chaldäa fortzieht, als erster Pilger. Das ganze Leben des Christen kann als Pilgerfahrt gedeutet werden der Christ ist ausgeheimatet aus dieser Welt und unterwegs zu seiner ewigen Heimat, die er auf dieser Erde nicht findet. Die Pilgerfahrt wird zum Sinnbild des Lebens. Wie der mittelalterliche Mensch nicht seinem bloßen Vergnügen lebt, sondern eingebunden ist in die Sinnstiftungen des kirchlich vermittelten Glaubens, so reist er auch nicht ohne höhere Zweckbestimmung. Als Pilger ist der Reisende nicht der moderne, Abwechslung und Erholung suchende Tourist, sondern sucht das Heil, das in der göttlichen Vergebung für irdische Sünde und in der Rettung aus erfahrener Not besteht. Einmal am Ziel seiner Pilgerfahrt angekommen, trifft er auf Vergebung bzw. auf die Fürsprache und Gnadenvermittlung eines Heiligen, auf Heilung eines körperlichen Gebrechens, auf Rettung aus Not. Pilgern war nicht das einzige sanktionierte Reisemotiv. Daneben gab es die Missionsreise, die kriegerische Verteidigung bzw. Ausbreitung des Glaubens (Kreuzzüge) und den Fernhandel, der seit dem 11. und 12. Jahrhundert zunehmend von den städtischen Patrizierfamilien beitrieben wurde. Das Pilgern unterschied sich von diesen eher berufsbedingten Reisemotiven neben der besonderen spirituellen Zielsetzung auch durch seine Zugangsmöglichkeit für Angehörige aller Klassen und Altersstufen. Spielte bis ins 9. Jahrhundert im Rahmen der ursprünglichen Vorstellung vom Pilgern als "In-der-Fremde-Leben", als asketischer Heimatlosigkeit, der konkrete irdische Zielort noch eine untergeordnete Rolle, wird dann die Pilgerfahrt zu einem bestimmten Ziel hin häufiger. Der Gläubige bricht aus der Behaustheit seiner vertrauten Raum-Zeit-Konstellation auf in das unbehauste Leben des Pilgers, dies aber mit dem Ziel, den heiligen Raum zu erreichen, in dem das Göttliche sich ihm vergegenwärtigt. Eine Hinwendung zu den heiligen Stätten zeichnet sich ab, wie zu Rom im 10. Jahrhundert, zu Jerusalem und Santiago im 11. und 12. Jahrhundert. (Wenngleich Jerusalem schon früher Ziel einzelner Pilger war. Berühmt ist der Reisebericht der Pilgerin Aetheria bzw. Egeria um 400. Jedoch entwickelte sich eine eigentliche Massenwallfahrt erst ab der Jahrtausendwende. Jerusalem galt zudem als der Mittelpunkt der Welt und Ort der Parusie, also der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten.) Aus dem Wunsch, Christus nachzufolgen, wird das Bestreben, die Orte seines irdischen Lebens aufzusuchen oder zu einer Stätte zu pilgern, die durch ein Apostelgrab geheiligt ist (Rom: Petrus und Paulus; Santiago: Jakobus). Hunderte von Kilometern wurden zurückgelegt, um zu einem dieser drei großen Fernpilgerzentren zu gelangen. Diese drei "peregrinationes maiores", von denen der Pilger als geweihtes Andenken einen in Metall gegossenen Petersschlüssel(Rom), einen Palmzweig (Jerusalem) oder aber die berühmte Jakobsmuschel (Santiago) heimbrachte, übten auf die Gläubigen eine besonders starke spirituelle Anziehungskraft aus. Dabei spielte die Reliquienverehrung eine wichtige Rolle. Bottineau zieht sie geradezu zur Definition von Pilgern heran: "Pilgern besteht im Mittelalter darin, sich aufzumachen, um Reliquien und insbesondere einen heiligen Leichnam zu verehren. Man begab sich zum Grab eines Märtyrers, eines Apostels oder sogar Christi" (84). Seit dem vierten Jahrhundert wurden den Reliquien von Heiligen übernatürliche Kräfte beigemessen. Sie galten gleichsam als das materielle Vermittlungsobjekt von Gnade und Heil. Reliquien erlangten dann im Hochmittelalter eine solche Bedeutung, daß ihnen mitunter sogar als Zahlungsmittel der Vorrang vor Gold und Silber gegeben wurde. In der Folgezeit nahm der Reliquienkult Ausmaße an, die selbst vor einem "frommen Raub" nicht zurückschreckten. Es entwickelte sich gar ein eigener Handelszweig für den Vertrieb, wogegen das IV.Laterankonzil von 1215 einzuschreiten ver-suchte. Reliquien verschafften Schutz, Hilfe, Ansehen und Macht. Sie konnten politische Ansprüche durchsetzen und legitimieren. Auch die Erhebung Santiagos zum Erzbistum zählt dazu der Anspruch wurde mit der Präsenz der Apostelreliquien begründet. Weil es an Reliquien stets mangelte, erfand man die zahlreichen indirekten Reliquien, die ununterbrochen geschaffen werden konnten, z.B. durch Berührung des Heiligtums mit einem anderen Gegenstand. Aber nicht nur diese Berührungsreliquien, sondern auch Erde aus dem hl.Land, Holz vom Kreuzesstamm oder von den Ölbergsbäumen oder das von den Kerzen am Heiligtum herab tropfende Wachs waren als Verehrungsobjekte äußerst beliebt. Für den gläubigen Menschen des Mittelalters galten die jeweiligen Reliquien als echt, wenn sie Wunder bewirkten. Gerade die Wunderberichte lockten zahlreiche Pilger auf den Weg. Den Apostelreliquien in Santiago kam in zweifacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Jakobus war der einzige im westlichen Okzident begrabene Apostel (das Matthiasgrab in Trier ist eine spätere Tradition und erlangte nur regionale Bedeutung), und er war der erste Märtyrer der Christenheit. Damit hatte sein Kult von Anfang an eine erhöhte Durchschlagskraft. Außerdem spielt wohl eine Rolle, daß der Jakobuskult im Unterschied zum Petruskult in Rom nicht in liturgischen Formen erstarrt war und keine hierarchische Vereinnahmung wie durch die römische Papstideologie erfuhr. Versucht man, die mittelalterliche Pilgerfahrt nach ihren unterschiedlichen Motivationen zu typisieren, kann man drei Grundtypen herausstellen: Pilgerfahrt aus Devotion, Pilgerfahrt als Buße oder Strafe und die Delegationspilgerfahrt. Die Pilgerfahrt aus Devotion, die nach Ausweis der mittelalterlichen Pilgerführer als die reinste Form gilt, läßt sich in Bitt- und Dankpilgerfahrt scheiden. Die vielen Wundergeschichten, etwa im zweiten Buch des "Liber Sancti Jacobi" bzw. "Codex Calixtinus", lassen beide Typen deutlich erkennen. Körperliche oder andere Nöte motivieren häufig zu einer Bittwallfahrt, bereits durch ein Wunder Gerettete pilgern zu einem heiligen Ort, um dem Heiligen zu danken und vielfach, um ein Gelübde zu erfüllen. Devotionspilger folgten dem bekannten Ruf des Heiligen; für sie dürfte der Wunsch, dem Grab und Körper des Verehrten physisch nahe zu sein, ein bedeutendes Motiv zum Antritt einer Pilgerfahrt gewesen sein. Sicherlich darf man oft auch "außerreligiöse" Motive wie Reiselust und Fernweh in Rechnung stellen, für die Santiago-Fahrt wohl auch die Faszination der Reise an den äußersten westlichen Rand der Erde (Kap Finisterre- finis terrae: Ende der Welt). Der religiöse Hauptanstoß für den Aufschwung des Pilgerwesens darf jedoch in der Wundergläubigkeit des mittelalterlichen Menschen gesehen werden. Diesen freiwillig unternommenen Pilgerfahrten läßt sich der Typus der zunächst von kirchlichen, dann auch von weltlichen Instanzen verordneten Buß bzw. Strafpilgerfahrt gegenüberstellen. Es handelte sich dabei zuerst um eine Praxis des kanonischen Rechts, die sich in der Karolinger-zeit entwickelt hatte und über Jahrhunderte lebendig blieb. Ab dem 13. Jahrhundert werden auch von weltlichen Instanzen, besonders im belgisch - niederländischen Raum, später auch in den Hansestädten, Strafwallfahrten nach Santiago verhängt. Zwischen 1415 und 1513 erfolgten allein in Antwerpen etwa 2500 Verurteilungen zu verschiedenen Pilgerfahrten. Nicht umsonst hat man hier von einer Art Sozialhygiene gesprochen (Steven Runciman). Es blieb nicht aus, daß dieser Typus von Pilgerfahrt auf das Pilgerbild im allgemeinen negativ abfärbte. Im Extremfall wurden die Begriffe "Pilger" und "Verbrecher" synonym. Von daher wird es auch verständlich, warum die Katholischen Könige Spaniens im 16. Jahrhundert den Pilgerweg nach Santiago auf eine vier Meilen breite Zone entlang dem alten camino frances begrenzten. Wer diese Zone verließ, hatte keinen Anspruch auf die Vorrechte des Pilgerstatus. Die Nationalstaaten nahmen das Pilgerwesen unter eine strengere Kontrolle, von den Pilgern wurden vielfach Geleitbriefe und Ausweisschreiben aus ihrer Heimat verlangt. Eine dritte, ebenfalls seit dem Spätmittelalter häufiger anzutreffende Form ist die Delegationspilgerfahrt, bei der jemand anstelle eines anderen oder im Auftrag einer Gruppe reist. Die stellvertretende Pilgerfahrt bzw. die testamentarisch angeordnete "postume" Fahrt machten es möglich, daß es berufsmäßige Pilger gab, die nach einem festen Tarif bezahlt wurden. Über den glaubens und mentalitäts-bedingten Faktoren wie der Reliquienfrömmigkeit und der Wundergläubigkeit dürfen jedoch die politischen Faktoren nicht übersehen werden, die die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela im Hochmittelalter nicht unwesentlich förderten hier vor allem die Verbindung von Reconquista und Kreuzzugsbewegung.