Eine Menge, Martin, eine Menge. Auf den ersten Blick war ich versucht, genau wie mein kongenialer Mitdiskutant Lorb, reflexartig "Nein" zu tippen. Aber dann habe ich angefangen, nachzudenken. Üble Angewohnheit von mir, ich weiß, aber ich kann sie mir einfach nicht abgewöhnen. Und nun möchte ich, nachdem ich ja einen Ruf als ständiger Querulant zu verlieren habe, Euch mit meinen wie immer wirren Gedanken belästigen. (Wer jetzt weiter liest ist selber schuld und ich akzeptiere jeden, der das nicht tut prost1 ) Karl Valentin hat mal gesagt: "Die Menschen san gut, nur die Leut san so schlecht", was ein von mir sehr geschätzter Biologieprofessor leicht abwandelte zu: "Der Mensch ist in Ordnung, aber die Leut sin a Sau" Vom biologischen Standpunkt aus gesehen stimmt das auch. Der Homo Sapiens als Individuum einer Art ist kein Problem, er ist weder "gut" noch "schlecht" oder "böse", denn diese Parameter werden erst von der Gesellschaft (oder besser: von Teilen der Gesellschaft, aber mit dem Gültigkeitsanspruch für alle - womit wir ein großes Problem schon mal lokalisiert haben) definiert. Er ist, wie alle Lebewesen, zuvorderst mal egoistisch. Ist ein Alpha-Löwe,der die Jungen seines Vorgängers tötet, damit die Mütter wieder empfängisbereit werden und er zum Zuge kommt, nun böse? Eine Katze, die mit dem Opfer spielt und es leiden lässt, anstatt es effektiv und gnädig schnell zu töten? Die Natur hat andere moralische oder ethische Vorstelllungen als wir. Setzt man die Begriffe "Natur" und "Gott" - egal unter welchem Namen man diesen nun ansprechen möchte- gleich, kommt man zu einer Erkenntnis, die in allen großen Religionen der Welt - nicht nur den monotheistischen - schriftlich fixiert wurde: Gottes Wege sind unergründlich. Was aber uns Menschen nicht davon abhält, ständig zu meinen, der da oben müsste gefälligst dieselben Moralvorstellungen haben wie wir. Davon sind wir dermaßen überzeugt, dass wir - oder einige von uns - uns anmaßen, in Gottes Namen zu richten und zu urteilen. Welch Blasphemie, begangen ironischerweise gerade von denen, die sich am allergläubigsten, Gott näher als andere, betrachten. Der Umweg über Gott (Der Panzerreiter hat ja mitunter, wie wir alle wissen, etwas wirre Gedanken) ist so groß und unpassend nun nicht, wie man zuerst meinen könnte. Denn die Entwicklung religiöser und gesellschaftlicher Normen, Moral, Ethik (denn auch ethische Grundsätze, Argumente und Logiken werden von der Gesellschaft entweder akzeptiert oder nicht) ist weitgehend homolog (im biologischen Sinne. "homolog" bedeutet: Ähnlich im Aufbau, ähnlich in der Entstehungsgeschichte, aber durchaus unähnlich in der aktuellen, äußeren Form). Beide dienen, positiv betrachtet, dazu, das Zusammenleben von Gruppen von Homo Sapeins, die zu groß sind, um selbstregulierend zu sein, zu regeln und damit zu ermöglichen. Negativ betrachtet dienen sie dazu, einzelnen Untergruppen oder Individuen eine Machtposition und eine Sonderstellung zu verschaffen, gerne auch auf Kosten anderer. Der Knackpunkt ist nun, dass sich zwar unsere Technologie rasant weiterentwickelt hat, unsere Körper, Hirne, also unsere physischen, psychischen und auch metaphysischen Fähigkeiten aber nicht. Wir leben, biologisch betrachtet, immer noch in der Steinzeit. Wir bilden uns zwar ein, ein hochentwickeltes gesellschaftliches Niveau erreicht zu haben, aber das ist purer Selbstbetrug. Haben wir nicht. Wir haben nur die technischen Möglichkeiten, unsere primitive Gesellschaftsfähigkeit modern umzusetzen. (Der geneigte Leser mag erkennen, vielleicht auch erst auf den zweiten Blick, dass ich immer noch eng beim Thema bin). Es gibt, wie schon in der Antike, Individuen, die sich, manchmal durch Leistung und ein hohes ethisches Bewusstsein, in der Mehrzahl aber leider nur durch Betrug, Bestechung, Drohung und eiskalte Intrige, an die Spitze einer Gesellschaft stellen und in dieser Position geltende Normen und Moral bestimmen. Diese Normen und Moral werden als notwendig, gottgegeben und alternativlos bezeichnet. Das genügt, um die Mehrzahl der untergebenen Individuen zu überzeugen, da diese eben, wie erwähnt, den geistigen Entwicklungsgrad, die Reife, vermissen lassen, um diese Normen und diese Moral selbstständig kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls anzuzweifeln und zu verweigern. Die Beeinflusser, die Leitwölfe, müssen dabei nicht unbedingt Kronen tragen, es genügt vollauf, laut genug zu sein - es ist ebenfalls ein Zeichen niederen gesellschaftsphilosophischen Entwicklungsstandes, gesellschaftliche Leitpositionen mit Titeln oder Ämtern zu verbinden. In einer kleinen, prägesellschaftlichen Stammeskultur reichen unsere gesellschaftsphilosophischen Geistesgaben aus. Die Gruppe ist überschaubar genug, um die wahren Qualitäten eines Individuums, das die Führungsrolle beansprucht, zu überprüfen und die Umstände und den Sinn der erlassenen Normen zu erleben und zu verstehen. Werden aber die Gesellschaften größer, unüberschaubarer, dann eröffnen sich ungeahnte Gelegenheiten für Blender und Machtmissbraucher, deren einzige Qualität die der Beeinflussung ist. Sie zwingen uns Normen auf, die angeblich von übernatürlicher Wahrheit und Notwendigkeit sind, tatsächlich aber von völlig fehlbaren Menschen kommen und keinerlei Anspruch auf irgendeine metaphysische Wahrheit haben. Ja, sie regeln auf die ein oder andere Art und Weise das Zusammenleben, aber das macht sie noch lange nicht gut oder legitim. Geregelt waren Euthanasie und KZ-Inhaftierung auch. Und diese Normen wurden von der Mehrzahl der Leute nicht nur akzeptiert, sondern auch gedeckt und umgesetzt. Es ist nur erforderlich, die Opfer zu stigmatisieren, um die Gesellschaft hinter sich zu einen und den Volkszorn auf eine entbehrliche Minderheit zu lenken. Ob die Vorwürfe, die vermeintlichen Gründe der Stigmatisierung, der Kriminalisierung, der Wahrheit entsprechen, ob sie objektiv wissenschaftlich bewiesen sind, ist dabei vollkommen unerheblich, solange sie nur vehement genug agitiert werden. Ob es nun Hexen, Hugenotten, Juden, Kommunisten, Ballerspieler oder Pädophile sind, ist völlig zweitrangig. Hauptsache, eine Minderheit, die man als Herrschender zu opfern bereit ist. Auch ein Freisler sprach nur geltendes Recht, war also "gut" in eben genau den Anführungszeichen, die Morgan so bewusst und treffend gesetzt hat. Nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in anderen Teilen des Lebens in und mit dieser Welt gelten diese beschriebenen Probleme. Der Wahrnehmungshorizont des durchschnittlichen Steinzeitmenschen geht nicht über die Grenzen des bewohnten Reviers hinaus. Das ist für ihn auch völlig ausreichend. Der Kakadu in Australien interessiert sich nicht für den Wasserstand des Nils oder den Baumbestand des brasilianischen Regenwaldes. Ebensowenig hat der einfache Homo Sapiens nur dann tiefergehendes Interesse an der Verschmutzung des Ganges, wenn er aus diesem sein Trinkwasser schöpft. Die Situation der Bewohner 50 km weiter flussabwärts ist ihm egal, solange er bequem hineinscheißen kann. Man mag nun einwerfen, dass sich das ja heutzutage geändert hat, zumindest bei uns aufgeklärten Europäern. Aber das glauben eben nur wir Europäer. In dem Moment, wo das Objekt der Begierde, der neue Flachbildfernseher mit 12 Hektar Bildschirmfläche, 50 Euro billiger ist als das Konkurrenzmodell, ist Geiz plötzlich geiler als alles andere auf der Welt und es ist uns völlig egal, wo, wie und unter welchen Umständen das Ding gebaut wird und was alles dafür vernichtet wird. Trotzdem empören wir uns selbstverständlich über Umweltschäden (die anderen Leuten anzulasten sind) und phantasieren von ökologischen Fußabdrücken (anderer), die uns in Wahrheit vollkommen egal sind. Wir scheißen weiterhin fröhlich in den Fluss und scheren uns in immer noch nicht um die Leute flussabwärts. Wir aufgeklärten Europäer behumsen uns selbst. Wir sind gar nicht aufgeklärt, zumindest sind wir nicht in der Lage oder willens, Konsequenzen zu ziehen. Wir sind aber schnell dabei, die bösen Chinesen zu verurteilen, weil die so viel schädliches CO2 produzieren. Wir biegen uns die Moral so zurecht, dass andere schuld sind, damit wir selber fein raus sind. Das ist einer der wahren Hauptzwecke von Normen: Einzelnen (anderen) die Schuld zuweisen für Probleme der Mehrheit, um sich selbst (Mehrheit) moralisch zu entlasten. Da nun die Machtgier, die Egozentrik und die Skrupellosigkeit der Leittiere sich aber ebensowenig real weiterentwickelt hat (3.000 Jahre sind evolutorisch gesehen so gut wie nichts) wie die Ingoranz, die Beschränktheit und der Mitläuferdrang der Geleiteten, ist auch das Problem immer noch dasselbe. Wir verbrennen die Sündenböcke nicht mehr, wir verfolgen und vernichten sie zivilisierter, moderner. Aber wir tun es immer noch, konsequenter und effektiver als je zuvor. Und wir bilden uns immer noch ein, genau wie weiland, hochentwickelt zu sein. Insofern muss ich konstatieren: Ja, die Menschen waren früher besser. Ganz einfach, weil wir es nicht geschafft haben, in 1000 und mehr Jahren besser zu werden als sie. Wir sind genauso schlecht, aber die Leute damals hatten 1000 und mehr Jahre weniger als Ausrede. Welcher Schüler ist besser: Der, der mit 9 Jahren knapp durch's Abi fällt, oder der, der das mit 18 tut?