Baumwolle neu überdenken?

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Wilfried Tenneberg

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Im Mittelalterhobby, so dieses über 08/15-Marktniveau hinausgeht, wird akribisch geforscht, recherchiert, rekonstruiert und experimentiert. Viele Darsteller mit dem gewissen Anspruch sind da sehr engagiert. Umso befremdlicher erscheint es da, wenn die Baumwollfrage nicht nur kontrovers diskutiert wird, sondern meist doktrinhaft mit „Gabs nicht! – Geht nicht! – Weiche von mir Satanus! – Dieser Stoff ist mit Vorsicht zu genießen. – Baumwolle ist so was von bäh!“ usw. abgehakt wird. In vielen Aufsätzen, Inernetlexika-Einträgen, Hobbyblogs und Diskussionen im Netz (und leider auch hier) wird man nicht müde, gebetsmühlenartig auf dieses angebliche „Geht nicht!“ hinzuweisen. Der alte Hase im Verein hat das gesagt – dort wurde es von Generation zu Generation so überliefert, es steht auf wikipedia, also muss es ja stimmen. Das ist umso schlimmer, da sonst jede Stichlänge belegt, jede Gürtelschließe mit einem Fundbeleg abgesichert sein muss. Die Sohlendicke von Wendeschuhen wird genauso hinterfragt wie die Nietstärke am Topfhelm. Aber wenn jemand die Verwendung der Baumwolle im Hochmittelalter nachfragt, dann… Verständlich. Denn wer da anfängt zu recherchieren findet das oben Beschriebene und dreht sich im Kreis. Dennoch kann man fündig werden. Es gibt sehr gute Fachliteratur und darauf basierend einige gute websites sowie andere belegte Hinweise die das Puzzle vervollkommnen. Das wichtigste Buch zu diesem Thema ist: Maureen Fennell Mazzaoui The Italian Cotton Industry in the Later Middle Ages 1100 – 1600 Cambridge University Press 1981 und wird im folgenden nur mit Mazzaoui angegeben. Es ist auch unter den Literaturtipps hier im Forum schon vorgestellt. Ausgehend von den häufigsten Aussagen im Hobby soll hier der Versuch unternommen werden, zum Nachdenken anzuregen.
 
1. „Baumwolle wurde nur in kleinen Mengen importiert.“ Seit spätestens 1125 – dem ältesten erhaltenen Dokument einer Handelsreise der Venezianer mit Baumwolle als Schiffsladung (R. Morozzo della Rocca und A. Lombardo, eds., Documenti del commercio veneziano nei secoli XI-XII (Rom, Turin 1940) I, Nr. 47, S. 49), bis ins späte Mittelalter wurde Baumwolle massenhaft importiert. Ein anderes Dokument von 1168 bescheinigt dass der venezianische Händler Guidoto Gradenigo über zwei Tonnen Baumwolle in Korinth laden ließ, welche schon ein Jahr vorher mit der Summe von 64 Gold-„perpers“ (?) in Konstantinopel bezahlt wurden. Und mit solchen Beispielen geht es seitenlang bei Mazzaoui (ab S. 28) weiter und muss hier nicht länger ausgeführt werden. Weitblickende Kaufleute waren ständig auf der Suche nach neuen Rohstoffquellen, um von den islamischen Händlern, vor allem nach dem Verlust der Kreuzfahrerstaaten, unabhängig zu sein. Ein wichtiger Rohstofflieferant, mit dem Vorteil kürzerer Transportwege, wurde ab dem 12. Jhdt. Sizilien. Auch wenn die Qualität sizilianischer Baumwolle als niedrig eingestuft wurde, so war die Insel die größte und zuverlässigste Rohstoffquelle. Die Genuesen sicherten sich hier die größten Privilegien und hielten den Löwenanteil. Transporte von hier nach Genua sind schon für 1140 belegt. (Mazzaoui, S. 31 nach Ricotti, Liber Jurium, I, Nr. 66, CF Giovanni Scriba Nr. 280 u. 909) Im Handel wurde entkernter Rohbaumwolle der Vorzug gegeben, solche mit Samen wurde aber ebenso importiert wie gebleichtes oder bereits gefärbtes Garn. Der Preis für gesponnene Baumwolle war etwa 1,5 – 3-mal so hoch wie für Rohmaterial gleicher Qualität. ( Mazzaoui, S. 30 nach Pegolotti, Pratica della mercatura, S. 63, 77, 86) Von Pegolotti, wenn auch um 1350, stammt die einzige überlieferte Einschätzung der Qualitäten. Mit Sicherheit kann diese auch für frühere Zeiten angewendet werden: Danach kam die beste Baumwolle aus Syrien: Hama, Aleppo, danach Armenien (Kilikien), Sciame, Acre, Zypern, Latakia. (Mazzaoui S. 34; Pegolotti, wie vor, S. 293, 367) Trotzdem wurde auch nach 1291 Handel mit der Levante, über Famagusta/Zypern als Transitstation (Mazzaoui S. 37 nach Pegolotti S. 69, 77 ff.) getrieben, ferner mit Armenien und Lieferanten am Schwarzen Meer. Dieser Handel stieg dermaßen an, dass im Laufe der Zeit Schiffe mit größerer Tonnage (bis 600 t) gebaut wurden, und die Einführung des Kompasses erlaubte es, zwei Fahrten jährlich durchzuführen. Pisa, Genuaund vor allem Venedig wahren führend im Baumwollimport, von dem lebhaften Verkehr zeugen heute noch zahlreiche Frachtlisten, Handelsverträge und Zolltarife. Welche Ausmaße das über die Jahrhunderte annahm, zeigt ein Bericht wonach um 1450 eine genuesische Firma während fünfeinhalb Jahren 11.000 Tonnen Baumwolle – jährlich 2.000 Tonnen mit einem jährlichen Wert von 600.000 Dukaten, von Chios nach Genua verschiffte. (Mazzaoui S. 45 nach Philipp P. Argenti, The Occupation of Chios by the Genoese and Their Administration of the Island 1346 – 1566, (Cambridge, 1958), I, S. 482-4, 495-6, 501, 502-3, 519-20; III, S. 616, 620, 650-1)
 
2. „Aufgrund der Transportwege war es extrem teuer.“ Baumwollimport war ein Segen für die Schiffseigner und Reeder des Mittelmeerraumes. Mit Waren mit größerem Gewicht (Gewürze, Pottasche, Alaun) konnte man das Stauvolumen nicht ausfüllen. Leichte Waren wie Baumwolle, speziell Rohware füllten zwar den Stauraum aus gefährdeten jedoch die Stabilität der Schiffe. Deshalb wurden beide Warenarten für die Fracht kombiniert. (Mazzaoui, S. 48-53) Der Transport auf dem Wasser war gegenüber Karawanentransporten auf dem Land extrem preiswert, da mit einem Mal viel Ware transportiert werden konnte. Auch der Transport von den italienischen Mittelmeerhäfen zu den Industriestandorten geschah zum Teil auf dem Wasserweg, nicht ohne Grund waren etliche der Verarbeitungszentren in der Poebene angesiedelt. Aufgrund dieser Transportorganisation verringerten sich die Herstellungskosten enorm. 3. „Baumwolle konnten sich nur die Reichen leisten.“ Baumwolle war ein Stoff für jedermann. „In den unberührten Märkten Kontinentaleuropas bewirkten die von italienischen Kaufleuten eingeführten neuen Stoffe eine radikale und dauerhafte Veränderung der Geschmacks- und Nachfrageverhältnisse in allen Gesellschaftsschichten. Anfänglich hatte Baumwolle den größten Einfluss auf den Lebensstandard der städtischen Mittel- und Unterschichten, die in den frühen Phasen des industriellen Wachstums die Hauptabnehmer für Baumwollprodukte waren. Einige spezialisierte Artikel erfreuten sich ebenfalls einer Mode bei den oberen Klassen. Zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts hatte fertig hergestellte Baumwolle begonnen, Wolle und heimgesponnenes Leinen in ländlichen Haushalten zu verdrängen.“ (Mazzaoui S. 88, siehe auch Edward Tompkins McLaughlin, Studies in Medieval Life and Literature (New York und London 1894), S. 91 und Levasseur, Histoire des classes ouvrieres, I, S. 420-1 und Anm. 3) Vom 14. Jhdt ist überliefert, dass die italienische Oberschicht Baumwolle zugunsten von Leinen und Wolle aufgab um sich von den unteren Schichten abzuheben. Siehe auch Zitat bei 10. 4. „Baumwollstoffe wurden nur im Orient hergestellt.“ Bis zum 12. Jahrhundert war das wirklich so. Aus unternehmerischer Sicht war es für die Italiener aber lukrativer, den (billigen) Rohstoff einzuführen und die Textilien selbst zu produzieren. Eine frühe Produktionsstätte (vor 1200) befand sich in Apulia auf Sizilien. (Mazzaoui S. 61 nach Monticolo, Capitolari, II, S. 678) Von spätestens 1200 bis 1300 war eine hocheffiziente, perfekt durchorganisierte Baumwollindustrie in Städten wiePisa, Florenz, Genua, Mailand, Cremona, Piacanza, Pavia, Brescia, Monza, Bergamo, Parma, Mantua, Verona, Padua, Venedig, Bologna und Riminietabliert. (Mazzaoui S. 62 nach Alfred J. Doren, Italienische Wirtschaftsgeschichte, I (Jena 1934) S. 493 sowie Aloys Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Anschluss an Venedig (Leipzig 1900), I, S. 140) Das Wissen über diese Produktionsstätten stammt vor allem von Dokumenten über Produkte und Verträge, hauptsächlich jedoch von erhaltenen Statuten verschiedener Gilden der Baumwollweber.
 
5. „Baumwollprodukte gab es nur im südlichen Europa, sonst waren sie nicht verbreitet.“ Es ist richtig, dass diese Produkte zuerst im südlichen Europa Verwendung fanden, schließlich war man näher an der Quelle und der regionale Markt musste auch befriedigt werden. Spaniens Produktionsstätten waren nie auf Export angelegt und befriedigten nur die lokale Nachfrage. Der Aufbau der Baumwollindustrie in Italien war von Anfang an auch auf Export ausgerichtet. Baumwolle lieferten die Italiener nicht nur in Gebiete nördlich der Alpen, sondern auch zurück nach Outremer und nach Nordafrika. Ab 1182 kauften die Hospitaliter jährlich ca. 1000 – 1500 lfd. Meter verschieden gefärbtes Baumwollzeugs für ihr Hospital in Jerusalem. (Cartulaire, I, Nr. 627) Ein Vertrag von 1186 bestimmte den Versand von 3 Ballen Fustian nach Ceuta und Alexandria. (Oberto Scriba 1186, Nr. 136) 1205 wurden zwei venezianische Frachter auf dem Weg nach Konstantinopel mit einer Ladung von über 200 Ballen Wolle und Baumwolle von den Genuesen aufgebracht. (Schaube, Handelsgeschichte, S. 271) Andere Verträge, die zahlreich noch in Genueser und anderen Archiven lagern, berichten ebenfalls vom lebhaften Handel mit Baumwollprodukten und anderen Gütern kreuz und quer übers Mittelmeer. Alle anzuführen würde an dieser Stelle zu weit gehen. Mit steigender Produktion wurde auch der Markt in Europa massiv bedient. „Im späten zwölften Jahrhundert erschienen sie (ital. Baumwollprodukte – Anm. WT) auf den Messen der Champagne, von wo sie in andere Teile Europas verteilt wurden. Ein Dokument aus dem zwölften Jahrhundert bezieht sich auf den Verkauf von Baumwollsachen, die wahrscheinlich aus Italien stammten, in London.“ (Mazzaoui S. 64 nach Schaube, Handelsgeschichte, S. 415, 575-6) Im Jahr 1163 wurde der Verkauf von Baumwollwaren auf den Messen von Saint Martin in Provins auf ein bestimmtes Gebäude beschränkt. 1179 wurden die Rechte auf ein Drittel und die Hälfte der restlichen zwei Drittel der Zollgebühren für Baumwollwaren auf der Messe von Bar-sur-Aube an ein Kloster abgetreten. (Felix Bourquelot, Etudes sur les foires de Champagne, (Paris 1865), I, S. 243-4) Importierte Baumwollwaren und Baumwolltuch sowie rohe und gesponnene Baumwolle sind im Zollverzeichnis von Cappy in der Nähe von Bapaume im Jahr 1202 aufgeführt. (Finot, Etude historique, S. 236-44) In erhaltenen Verkehrslisten über die Alpenpässe nimmt Baumwolle einen der vordersten Plätze der exportierten Güter ein. „Im 12./13. Jahrhundert wird der Simplon ausgebaut und das Rhonetal für den Transitverkehr geöffnet – vermutlich auf die Initiative mailändischer Handelsleute hin und sicherlich indirekt als Reaktion auf die neuen Märkte in der Champagne. In einer ersten Phase werden vermutlich hauptsächlich Luxusgüter (Gewürze, Seide etc.) aus dem Orient und Tuchwaren aus Flandern transportiert, mit der Intensivierung des Verkehrs kommen in der Folge Kurzwaren, Barchent aus Mailand sowie Waffen und Baumwolle hinzu. ….Aber bereits im 14. Jahrhundert wird der Talverkehr durch den schlechten Zustand des Weges behindert.“ (Historische Verkehrswege im Kanton Wallis, Eine Publikation zum Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz IVS; herausgegeben vom Bundesamt für Straßen, ASTRA / OFROU, Bern 2003, S. 11 und 12)
 
6. „Baumwolle war von schlechter Qualität, deshalb waren die Kette aus Leinen und der Schuss aus Baumwolle.“ Wie heute gab es damals auch unterschiedliche Qualitäten. Mischgewebe mit Baumwolle, z.B. mit Leinen, Seide und Wolle, aber auch mit unterschiedlichen Baumwollqualitäten untereinander, gab es zuhauf. (Mazzaoui Anhang II, S. 166-7) Textilmischungen sind auf zwei Aspekte zurückzuführen: a) Einsparung von Kosten durch Verwendung billigerer Garne, b) um die guten Eigenschaften zweier Textilien zu kombinieren. 7. „Wenn Baumwolle, dann gab es nur Barchent und den erst im 14. Jhdt.“ In der (englischen) Fachliteratur wird meistens von „Fustian“ gesprochen. Dies ist ein Oberbegriff für verschiedene Baumwollprodukte und –mischungen. Meist wird er mit Barchent übersetzt, was nicht falsch ist aber oberflächlich. Barchent war nur eines von unzähligen Baumwollprodukten. Er wurde schon vor dem 10. Jhdt. im Orient hergestellt. (Mazzaoui S. 90-91) Die Fugger von Augsburg haben ihn weder erfunden noch verbreitet. Sie fanden nur eine Möglichkeit, Barchent billiger herzustellen als die Italiener. Damit waren sie in der Lage, den bereits bestehenden Markt mit ihren Waren zu erobern, was zum allmählichen Niedergang der italienischen Baumwollindustrie führte. (Mazzaoui, Kapitel 7)
 
8. „Es war viel mühseliger Baumwolle herzustellen als die anderen Stoffe.“ Einige islamische Innovationen wurden von den Europäern übernommen und teilweise vervollkommnet. Dazu gehören vor allem das Spinnrad und der Trittwebstuhl, aber auch Geräte die andere Arbeitsgänge erleichterten. Das Spinnrad, oft mit dem Spinnen von Wolle in Verbindung gebracht, wurde de facto von Baumwollspinnern im 12. Jhdt. eingeführt und erst später für das spinnen anderer Fasern übernommen. (Mazzaoui, S. 78; nach: Patterson, „Spinning and Weaving“ in Singer, History of Technology, II, S. 203 und Walter Endrei, L’evolution des techniques du filage et du tissage (Paris 1968), s. 20-23, 45-46, 53-56, 85-90) „Der Trittwebstuhl wurde erstmals im Laufe des 11. Jahrhunderts nach Europa eingeführt, wo er die bis dahin gebräuchlichen vertikalen Webstühle weitgehend verdrängte.“ (Mazzaoui, S. 82 nach Agnes Geijer, „Technical Viewpoints on Textile Design: Continuity and Evolution Especially During the First Millenium A.D.“ in Artigianato e tecnica nella societa dell’alto Medioevo occidentale, (Spoleto, 1971), II, S. 688-695sowie Eleanora Carus-Wilson, “Haberget: A Medieval Textile Conundrum”, Medieval Archaelogy, XIII, (1969), S. 162-166) Für das mühselige Trennen der Fasern von der Samenkapsel gab es eine Maschine mit zwei gegenläufigen Walzen. Diese hatten Rillen, welche die Fasern durchließen und gleichzeitig die Samen abstreiften. Diese manganello genannte Vorrichtung wurde bereits 1110 in Apulia in einem Mitgiftvertrag erwähnt. (Mazzaoui S. 74 nach Domenico Morea, Il chartularium del Monastero di S. Benedetto di Conversano, (Montecassino, 1892), I, S. 144) Bis zur Einführung der mechanischen „Ginny“ im 18. Jhdt. war diese Vorrichtung in Europa und später Amerika in Gebrauch. Zum öffnen und trennen der Fasern wurde seit dem frühen 12. Jhdt. ein Bogen benutzt, der über einem Tisch hängend in den Faserhaufen getaucht wurde. Die Bogensehne wurde in Schwingungen versetzt wurde, wodurch sich die Fasern öffneten. Auch für das Legen und Aufspulen des Kettgarnes gab es Vorrichtungen. (Mazzaoui S. 74-78) Diese Techniken, verbunden mit zahlreichen geschickten Facharbeitern für sämtliche Fertigungsprozesse, machten die Baumwollindustrie zur modernsten Textilindustrie des Mittelalters.
 
9. „Für Kleidung wurde Baumwolle nicht verwendet.“ Baumwolle wurde in den islamischen Ländern verwendet für: Unterwäsche, Schleier, Tuniken, Leichentücher, Beerdigungskleidung, Bettwäsche, Futter, Handtücher, Wandteppiche, Wandbehänge, Tischdecken, Servietten, Markisen, Teppiche, Stoffe und Polsterung – und natürlich Oberbekleidung. (Mazzaoui S. 19) In Europa wurde Baumwolle in allen produzierten Varianten genutzt für: Bettdecken / Aufschläge, Steppdecken, Kissen- und Matratzenbefüllung, Matratzenbezüge, Kissenbezüge, Baldachinbezüge, Vorhänge, Baumwolltischdecken, Servietten, Handtücher, Segel, Zelte, Totenumhüllung, Trauerkleidung, des weiteren fürGewänder, Oberbekleidung, Handschuhe, Schleier, Hauben, Blusen, Bänder, Geldbörsen, Futter, Coifs und Dubletten. Gebräuchlich wurden auch Baumwollgarne für Stickereien. (Mazzaoui S. 33,75,87,98,100,166) "Der Moralist Da Nono, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts schrieb, zeichnete die einst verbreitete Verwendung von Baumwollcotten in allen Gesellschaftsschichten in Padua auf. Er bedauerte die Aufgabe dieser bescheidenen Mode zugunsten kostspieliger importierter Stoffe und lächerlicher neuer Mode. Die aristokratischen Frauen tragen nicht mehr einfache Baumwollcotten (pignolato), sondern stattdessen teure, übertriebene, aus feinem, gekräuseltem Leinen gefertigte Gewänder. "(Mazzaoui S. 98 nach einem unveröffentlichten Manuskript zitiert in Cessi, Corporazioni, S. 25, 26) 10. „Baumwolle ist für eine HoMi-Darstellung nicht nutzbar.“ Ja und nein. Generell sind Baumwollstoffe für die Herstellung der unter 10. genannten Textilien gleichberechtigt mit Leinen, Wolle und auch Seide. Also ja. Je nachdem was man darstellt muss man differenzieren. Die Magd eines abseits liegenden Dorfes hatte sicher nicht den Zugang zu diesen Waren wie die Handwerkergattin einer größeren Stadt. Die Befriedigung der Nachfrage war um 1300 eine bessere als 1250. Der Kreuzfahrer um 1190 kam eher mit diesem Material in Berührung als der süddeutsche Ritter im gleichen Jahr. Die Fragen zur Nutzung/ Verarbeitung lauten: Wen stelle ich wo und wann dar? Wie ist meine persönliche Einstellung zur Baumwolle, wie ist mein Geschmack? Verarbeite ich lieber Leinen weil Omas Aussteuer noch vorhanden ist? Mag ich Wolle mehr, weil ich sie selber webe? Lehne ich Baumwolle generell ab weil ich diese Fakten nicht akzeptieren will? Bin ich froh dass Baumwollstoffe verwendet wurden, weil ich nun meine vor Jahren genähten Kleidungsstücke aus der „GroMi-Ära“ wieder anziehen kann? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Viel Erfolg! Danke für Eure Kenntnisnahme dieses umfangreichen Beitrages!
 
irrelevant sicher nicht! Einerseits bestätigen/beweisen solche Funde die Texte und viel wichtiger: Informationen über Webart, dicke etc.
 
Es gibt genügend andere Dinge im MA, von deren Existenz wir wissen die aber auch nicht durch Funde unterstützt werden. Aber das sollte an anderer Stelle diskutiert werden. Ich kann weder Funde herzaubern und auch nicht die Quellenlage aufgrund des Fehlens in Frage stellen. Als Ersatz für Webart usw. müssen dann halt Funde aus der islamischen Welt herhalten - diese waren ja schließlich die Vorbilder für die europäische Produktion.
 
Wow, das erschlägt! @Wilfried Tenneberg alle Achtung und Danke für die Ausarbeitung. Bei Katrin Kania, "Kleidung im Mittelalter, Materialien - Konstruktion- Nähtechnik, ein Handbuch" (das müssen starke Hände sein bei dem gewichtigen und umfassenden Werk ;) ) sind im Abschnitt "Materialien" auf Seite 36 einige Verweise zu Baumwollfunden: von BW-Fäden in einem Grab der Merowingerzeit, über ein BW- Gewebe aus dem Kanton Zürich 7.Jh bis zu BW-Seelenfäden für Goldlahn. Es gibt also schon Realien. Irgendwie fehlen noch Hinweise auf Verbände oder *räusper* "Klopapier" aus Abfallgruben und Latrinen, in denen die textilen Stücke am Ende ihrer Nutzungsdauer landeten.
 
Danke! Das Werk von K. Kania bekomme ich erst in Kürze über Fernleihe... bin gespannt. Danke für Deine Ergänzungen zu den Funden. Immerhin. Verbände haben wir bei den Hospitalitern schon diskutiert, wir gehen davon aus dass diese ebenfalls aus Baumwolle waren, zumal es bis jetzt drei Hinweise auf Verwendung dieses Stoffes im Orden gibt. Falls man in Latrinen etwas gefunden hat wird es schwer nach so langer Zeit festzustellen ob Leinen oder Baumwolle. Da braucht es dann schon ein Labor... Wobei Leinen glaube ich ein höheres Mindesthaltbarkeitsdatum hat.
 
Das Buch lohnt sich, auch wenn Baumwolle darin eher ein Randthema ist. K.Kania ist m.E. absolut zuverlässig bei den Recherchen und Verweisen. Leider gehört Baumwolle zu den empfindlichen Materialien. Bei den heutigen Möglichkeiten sollte es sich aber von Leinen unterscheiden lasssen... mikroskopisch?!
 
Es gibt ein komplettes (naja, mittlerweile nicht mehr ganz komplettes) Unterkleid von der Infantin Maria von Spanien aus dem Jahr 1235 das aus Baumwolle ist (ja, das ist das mit dem roten Zier-Kreuzstich über den Nähten). Sowas gabs also. Im Mittelmeerraum sicher eher als in Norddeutschland, und dass die Damen und Herren im 13. Jahrhundert in Spanien so rein modetechnisch auf einem völlig anderen Dampfer waren als im Rest von Europa kann man auf diversen Bildquellen und auch an den anderen Textilien aus den Gräbern von Las Huelgas deutlich erkennen. Nur warum sollte man in Mittel- und Nordeuropa für Unterwäsche (also etwas was man sowieso nicht sieht) auf Importware (sei sie nun teuer oder nicht) zurückgreifen wenn man aus heimischer Produktion ein Produkt hatte das diesen Zweck problemlos erfüllte? Fürs 13. Jahrhundert mag ich an ein wirklich verbreitetes Vorkommen von Baumwollstoffen noch nicht recht glauben. Aber ich muss sie ja auch nicht verwenden, das ist dann eben meine auf Funde und Quellen gestützte Interpretation. Ragnhild, Baumwollstoffe als "Klopapier" aus Lumpen in mittelalterlichen Latrinen wird man vermutlich genausowenig finden wie Leinen, da beides Pflanzenfasern sind die in der Erde recht schnell vergehen. Tierische Fasern wie Seide und Wolle sind da deutlich zäher und langlebiger.
 
ja das Milieu des Bodens... entweder rafft es die pflanzlichen oder die tierischen Hinterlassenschaften dahin... *back to topic* Seit dem Ersten Kreuzzug und über die Verbindung zur Kranken- und Siechenpflege der Orden würde ich die Verwendung von Baumwollprodukten bei Verbänden erwarten. Eine Quelle habe ich aber nicht...
 
Spannend, in der Tat! Es ist allerdings seltsam, dass diese Importware (teurer als einheimischeTuche) so gar nicht in den Kleider(Luxus-)ordnungen des 15.Jhdt. in Leipzig (immerhin keine Klitsche, sondern Reichsmessestadt) erwähnt wird, obwohl man dort recht genau auf die dem jeweiligen Stand zustehende Tuchqualität eingeht. Ist jetzt unser erstes Zelt aus Baumwolle rehabilitiert und für LH tauglich? :thumbup:
 
Danke für die Informationen. Das ist sehr spannend. Mich würde allerdings auch interessieren, inwieweit bzw. wie schnell sich Baumwolle in Mitteldeutschland etablierte....
 

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