Disput über wissenschaftliche Methodik bei der Untersuchung von Geschlechterrollen in einer fremden Kultur

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Ich halte es für unwahrscheinlich und kann es begründen.Andere halten es für wahrscheinlicher, und können es aus ihrer Sicht ebenfalls begründen. Mangels Fakten haben beide Seiten gleichermaßen Recht oder Unrecht.
Zu ner ähnlichen Schlussfolgerung bin ich gerade auch gekommen. ^^ Können wir uns darauf einigen, dass wir den Gegenstand unserer Diskussion so lange nicht als erwiesenermaßen "sehr unwahrscheinlich" und damit vernachlässigbar einordnen, bis du für deine Argumentation (insbesondere Schritt 3 und 4) eine wissenschaftlich belastbare Quelle (vermutlich aus dem Bereich der Soziologie) vorlegst? und umgekehrt ordnen wir den Gegenstand auch nicht als erwiesenermaßen "wahrscheinlich" und damit unbedingt zu berücksichtigen ein, so lange ich keine - aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, also relevant für Ort und Zeit - belastbaren Quellen dafür vorlegen kann, die ausreichen, um aus dem Bereich des prinzipiell Möglichen in den des Wahrscheinlichen hinein zu kommen? Auch, wenn das Ergebnis damit dann erstmal ein Unentschieden ist, hat diese Diskussion - auf jeden Fall für mich - sehr viel gebracht. Ich halte meinen vogelperspektivischen Blick über den Bereich des denkbar Möglichen nach wie vor nicht für grundsätzlich verkehrt, erkenne aber, dass ich von dort aus nicht seriös argumentieren kann, dass es etwas im Mittelalter "erwiesenermaßen mit einer zu berücksichtigenden Wahrscheinlichkeit" gegeben hat. Dafür muss ich dann in die Quellen der betreffenden Zeit und Kultur eintauchen und dort nach Belegen suchen (was ich voraussichtlich in Kürze auch verstärkt tun werde, aber dazu an anderer Stelle mehr... ;) ). Nochmal herzlichen Dank an alle, die hier so engagiert und - im Rahmen der eigenen Vorstellung wie ich finde auch jederzeit sachlich - diskutiert haben! :danke Mit freundlichem Grinsen Ilka :bye01
 
So ist es. Man wird die Frage nicht mit 100%iger Sicherheit beantworten können, jedenfalls nicht nach aktueller Quellenlage. Was man kann, ist, die Wahrscheinlichkeit zu vergrößern oder zu verringern, mit der es so oder so gewesen sein könnte. Mehr nicht. Mit einer einzigen Methode ist auch das nicht möglich. Weder ist binäre Logik ausreichend, um ein soziologisches Thema in Gänze zu erfassen, noch ist eine soziokulturelle Logik ausreichend, um einen binären Sachverhalt (Gab es, gab es nicht) zu ergründen. Es müssen hier mehrere Methoden Hand in Hand arbeiten. Experten für soziokulturelle Ansätze tun das ihre, und klasssische Logiker ebenso. Die klassische Logik hat u.a. die wichtige Aufgabe, die Soziologen in ihrem Interpretationseifer zu bremsen und auf Logiklücken hinzuweisen. Beide Seiten müssen diese Zusammenarbeit konstruktiv und kooperativ gestalten anstatt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen und sich ständig unverstanden zu fühlen. Die Soziologen müssen einsehen, dass ihre "Logik" allzu oft nicht zwingend und eher der Wunsch Vater des Gedankens ist, die binären Logiker müssen akzeptieren, dass ihre Logik, gleichwohl im Kern unanfechtbar, bei soziologischen Fragen nicht ausreichend zu befriedigen vermag. Das Ganze muss dialektisch gelöst werden, wobei unterschiedliche Ansätze die gegensätzlichen Positionen der Dialektik übernehmen. Jeder Antagonist tut das, was er am besten kann, ohne den anderen "besiegen" zu wollen. Das ist schwer und erfordert viel Verständnis und Selbstdisziplin, aber nur so wird ein Schuh draus. Übrigens: Ich halte weniger die reinen Beobachtungen der Genderforschung für unwissenschaftlich, sondern deren Schlüsse daraus. Fakten sammeln haben sie schon halbwegs gelernt (auch wenn sie noch sehr anfällig sind für statistische Fehlgewichtungen), interpretieren müssen sie noch üben.
 
@Fifill - Meine Punkte 3) & 4) sind soziologisch und gesellschaftswissenschaftlich betrachtet erst einmal universell und allgemeingültig. Es existieren allerdings natürlich auch Ausnahmen und Einzelfälle, wo diese Allgemeingültigkeit nicht gegeben ist. Allerdings - und hier muss ich den Ball an Dich zurück spielen - postulierst Du eine mögliche Ausnahme der Regel. Also liegt die Beweislast bei Dir, die Ausnahme von der Regel zu belegen, nicht bei mir, die Zugehörigkeit zur Regel zu widerlegen ;-)
 
Der Inhalt und das Ergebnis dieser Diskussion ist für mich nach wie vor nur zweitrangig. Wenn's in die eine oder andere Richtung hinterher eine neue Erkenntnis gibt, dann freue ich mich gleichermaßen, weil damit das Gesamtbild einer für mich sehr interessanten Epoche wieder ein wenig vollständiger wird. Meine beständige Kritik, die möglicherweise ab und an recht harsch rüber gekommen sein mag, bezieht sich ausschließlich auf die Art und Weise, wie diese neuen Erkenntnisse gewonnen werden (sollen), nicht auf deren Inhalt.
 
Noch ein letztes kurzes Beispiel dazu, warum ich auf der Regel und der Beweislast permanent so herum reite: Säugetiere sind in der Regel lebend gebärend. Finden wir eine neue Säugetierart, besteht also eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch diese neue Art ihren Nachwuchs lebendig aus sich heraus schlüpfen lässt. Nun behaupte ich: "Es gibt da eine Ausnahme von dieser Regel." Erwarte ich nun von Dir, mir zu beweisen, dass ich falsch liege? Nein, denn Du kannst guten Gewissens sagen, dass drölftrillionen bekannte Säugetiere lebend gebären, und meine Behauptung wahrscheinlich (!) falsch ist. Zumindest so lange, bis ich das Gegenteil belegen kann. In dem Fall kann ich das. Ich kann Dir sagen, dass ich ein Schnabeltier entdeckt habe, was zwar ein Säugetier ist, aber Eier legt. Die Regel ist also hinsichtlich der vermuteten Wahrscheinlichkeit nach wie vor gültig, allerdings haben wir nun zumindest eine belegte (!) Ausnahme davon. Nun, finden wir eine weitere neue Säugetierart, besteht nach wie vor die größte Wahrscheinlichkeit darin, dass auch diese Art lebend gebärend ist. Da hat sich durch die eine Ausnahme nicht signifikant was dran geändert. Die Parallelen zur aktuellen Diskussion muss ich vermutlich nicht großartig weiter ausführen ;-)
 
Letztes Beispiel, dann soll für heute auch mal gut sein. Kommt mir auch nur spontan in den Sinn, weil ich gerade an einer Birke vorbei gelaufen bin ;-) Für meine Haithabu-Darstellung habe ich mir Stoff mit Birkenblättern gefärbt. Ich argumentiere, dass es Birken da oben zu der Zeit in ausreichender Menge gab, die Färbung mit den Blättern extrem einfach und intensiv ist, und ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass in den fast 300 Jahren Besiedelung dort kein Mensch auf die Idee gekommen sein sollte, das Zeug mal versuchsweise zum Färben zu benutzen. Das Gegenargument: Birke ist als Färbung nicht nachgewiesen, also ist die Färbung damit für Haithabu in dieser Zeit nicht authentisch. Das ist soweit auch vollkommen korrekt. Diese Färbung ist einfach nicht nachgewiesen. Punkt aus. Mein 'aber' dazu: in keiner mit mir bekannten Testreihe wurde überhaupt auf Birke getestet. Und was man nicht testet, kann man auch schwerlich nachweisen ;-) Fakt ist nun: kein Nachweis, damit nicht authentisch. Kann (und muss) ich solange akzeptieren, bis eine Testreihe durchgeführt wird, die das Gegenteil belegt. Bis dahin muss ich meine Klamotten als 'ist denkbar, weil blablabla, aber ist (leider) nicht belegt' deklarieren. Damit kann ich ganz persönlich gut leben, andere Darsteller halt nicht. Im Grunde ist es doch mit Deiner Fragestellung sehr ähnlich. Solange die Quellen erst gar nicht ganz gezielt und seriös auf Deine These geprüft wurden, kann man nur sagen 'Es ist nicht belegt, aber aus den und den Gründen halte ich es für denkbar bzw. unwahrscheinlich ;-)' Solange beide Seiten seriöse und sachliche Argumente haben, muss es auch nicht immer und überall einen finalen Konsens geben.
 
Emotion schlägt Vernunft. Das ist so, weil in Extremsituationen für rationale Überlegungen keine Zeit bleibt und intuitiv-impulsiv gehandelt werden muss. Es ist ein Überbleibsel aus der Verhaltensevolution. Die Amygdala ist einfach entwicklungsgeschichtlich älter als der Präfrontale Kortex. (Ich möchte jetzt nicht auf die Vernetzung und Funktionen der einzelnen Gehirnregionen im Detail eingehen, die natürlich etwas komplexer sind).
Erstmal: cool, noch jemand, der sich für das Gehirn interessiert! Dann: (ohne sich in dem Gebiet auszukennen) eine Frage: vielleicht unterläuft hier genau der von Ilka benannte Fehler, nur eben umgekehrt? Wir leben in sehr individualisierten Gesellschaften, wir in S vielleicht noch mehr als ihr in D, in der es eine grosse Offenheit für Variationen in allen möglichen Aspekten, eben auch der sexuellen Identität, gibt. Obwohl mein persönlicher Eindruck ist, dass im Rahmen der ökonomischen Veränderungen der letzten Jahre zumindest hier in S die Regeln wieder strenger werden und Abweichungen eher sanktioniert werden, sehe ich uns immer noch auf einem in dieser Weise "hohen" Niveau. Kann es sein, dass wir dieses moderne Bild einer Wahlfreiheit oder zumindest hohen Toleranz gegenüber Variationen unbewusst auf frühere Generationen projizieren und in diesem Licht Dinge deuten? Und dass diese Toleranz eine Grundsicherheit in der Basisversorgung voraussetzt, die aber bei Kulturen in Gebieten mit so harschen Voraussetzungen wie dem Skandinavien des 9-11 Jh nicht gegeben waren? Andererseits: das Götterargument hat mir zu denken gegeben... die Figur des Loki repräsentiert schon ein eigenes Rollenbild, das in erheblichem Kontrast zu den Asen und (den wenigen) Vanen steht... Das führt zu Freya, die die gefallen Krieger zusammen mit Odin aufteilt in Vorbereitung auf Ragnarök... Nicht so die typisch weibliche Rolle, weniger wegen der modernen Geschlechterrollen, sondern wegen der selbstverständlichen Nähe zu einer mit militärischen Mitteln zu lösenden herannahenden Katastrophe... Das Grab bj 581 hat ja einige Diskussionen ausgelöst, und die Frage, ob die untersuchten Knochen aus diesem Grab stammten, war wohl schon früher aufgrund der Art der Buchführung in Frage gestellt worden; sicher ist aber wohl: es fehlen Spuren an den Knochen, die auf Verletzungen oder kontinuierlchen Gebrauch dieser Waffen hindeuten. So wahrscheinlich, selbst wenn eine biologische Frau in dem Grab gelegen hat, hat sie nicht aktiv gekämpft. Kurz: ich denke, es geht in die Irre, wenn wir versuchen, von unseren Denkweisen und umserer von Individualismus und Offenheit für Variationen geprägten Gesellschaft, in der wir Leute wegen Übergewicht operieren (und nicht wenige), in der also Versorgung mit Lebensmitteln in weiten Teilen nicht mehr das dominierende Problem ist, sondern eher der Überfluss davon, in der rationales Denken und Bildung vielleicht nicht dominieren, aber doch einen positiven Wert haben, in der Information im Überfluss vorhanden ist und das Problem nicht in der Beschaffung, sondern der Filtrierung und Bewertung der Informationen besteht auf eine bäuerlich-seefahrerische mittelalterliche Kultur in einer Gegend mit einer kurzen Vegetationsperiode, in der der Ausstoss aus der Gemeinschaft eine der Todesstrafe gleich oder nahestehende Strafe war, in der Konflikte gelöst werden konnten, indem man 12 freie Männer aufbrachte, die beeideten, dass man recht hatte (Östgötalagen)zu schliessen... vor allem, wenn die Belege aus der Zeit so sparsam sind. Meine fünf Öre, //M
 
Mal unabhängig davon, dass wir hier ja zum Großteil gar keine Wissenschaftler sind, oder?
Für den Augenblick und das betreffende Thema im Besonderen völlig richtig. Aber einige von uns haben gelernt, wissenschaftlich zu arbeiten.Die richtign Mittel und Zielsetzungen vorausgesetzt, wäre ich z.B. jederzeit imstande, ein wissenschaftliches Arbeiten wieder aufzunehmen.
Damit war nur gemeint, dass das Forum sich daher nur bedingt als geeignete Plattform für ein wissenschaftliches Peer-Review-Verfahren eignet. Es ging Fifill ja um die größtmögliche Wissenschaftlichkeit. :)
 
@vibackup Ich verstehe den Zusammenhang mit der zitierten Passage nicht. Welcher Fehler unterläuft da und warum? ?(
 
@vibackup Ich verstehe den Zusammenhang mit der zitierten Passage nicht. Welcher Fehler unterläuft da und warum? ?(
Sooorry! Ich sehe im Nachhinein, dass man das missverstehen kann. Es geht überhaupt nicht um irgendeinen Fehler in deinem Beitrag, sondern ich habe mich schlicht darüber erstmal darüber gefreut, dass du dich offenbar für Gehirnstrukturen und deren Funktion interessierst. Dann habe ich auf die Diskussion und vor allem die Frageder Sicht auf frühere Kulturen reagiert, allerdings am wenigsten auf deinen Beitrag (dem ich im wesentlichen zustimmen wollte). "Hier" in meinem Beitrag bezog sich also nicht auf deinen Beitrag, sondern auf Ilkas... Das war undeutlich, sorry. Wollte meinen Beitrag angepassen in der Hoffnung, dass es deutlicher wird, das scheint aber nicht mehr zu gehen. Denk dir also einen Absatz nach: Erstmal: cool, noch jemand, der sich für das Gehirn interessiert! und dann ein @Ilka: //M
 
Erstmal: cool, noch jemand, der sich für das Gehirn interessiert!
Ich auch!!! :thumbsup: Ich habe sehr viel Erfahrung mit Gehirnen, die aufgrund psychischer Störungen teilweise nicht "richtig" funktionieren. ;)
Dann: (ohne sich in dem Gebiet auszukennen) eine Frage:vielleicht unterläuft hier genau der von Ilka benannte Fehler, nur eben umgekehrt? Wir leben in sehr individualisierten Gesellschaften, wir in S vielleicht noch mehr als ihr in D, in der es eine grosse Offenheit für Variationen in allen möglichen Aspekten, eben auch der sexuellen Identität, gibt. [...] Kann es sein, dass wir dieses moderne Bild einer Wahlfreiheit oder zumindest hohen Toleranz gegenüber Variationen unbewusst auf frühere Generationen projizieren und in diesem Licht Dinge deuten?Und dass diese Toleranz eine Grundsicherheit in der Basisversorgung voraussetzt, die aber bei Kulturen in Gebieten mit so harschen Voraussetzungen wie dem Skandinavien des 9-11 Jh nicht gegeben waren?
Was ich u.a. zeigen wollte war, dass Toleranz gegenüber geschlechtlichen Minderheiten zwar in unserer Kultur mit ihrer binären Geschlechterordnung eine neue Erscheinung ist, es aber viele andere Kulturen gab und bis heute gibt, in denen diese geschlechtlichen Minderheiten im Rahmen einer traditionellen Drei- oder Mehrgeschechterordnungen einen festen Platz innerhalb der Gesellschaft haben.* Auf diesem Hintergrund habe ich hinterfragt, inwiefern man überhaupt von der Grundannahme ausgehen darf, dass die Gesellschaft der Wikinger auf einem binären Geschlechtermodell wie dem unsrigen basiert hat oder ob es nicht genauso gut denkbar wäre, dass es sich um eine Mehrgeschlechterordnung gehandelt hat, in der es für bestimmte geschlechtliche Minderheitsvarianten spezielle Rollen gegeben hat. Für die literarischen Motive der Schildmaiden und der Walküren wird ein Deutungsmodell als eine Art 3. Geschlecht tatsächlich wissenschaftlich diskutiert.* *Quellen: Siehe Diskussionsverlauf - oder nachfragen, dann poste ich sie auch nochmal ;) In sofern geht es gerade eben nicht darum, heutige Vorstellungen bezüglich Geschlechtsvarianten auf das Mittelalter anzuwenden, sondern darauf hinzuweisen, dass eine Betrachtung aus der Perspektive unserer binären Geschlechterordnung keinesfalls die einzige Möglichkeit darstellt und auch nicht signifikant wahrscheinlicher ist als traditionelle Mehrgeschlechtermodelle.
 
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Ah, verstehe. Wir sind jetzt bei diesem Punkt natürlich nich mehr bei der binären, zwingenden (naturwissenschaftlichen) Logik (eindeutig richtig, eindeutig falsch), sondern bei der stufenlosen, analogen, soziokulturellen Denkweise. Da sehe ich das im Grunde ähnlich wie du, nur möglicherweise genau umgekehrt :D In einer, meist kleinen, Gesellschaft, in der man zum Bestreiten des täglichen Lebensunterhalts tatsächlich auf die anderen Mitglieder persönlich angewiesen ist - das ist dann keine "Gesellschaft" mehr sondern eine "Gemeinschaft" - hat man Wichtigeres zu tun als sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Die Forschung ist sich inzwischen ziemlich sicher (aufgrund von Grabbeigaben und Untersuchungen an den menschlichen Überresten), dass etwa bei Steinzeitjägern regelmäßig junge, fitte Frauen dabei waren, ganz einfach, weil man jeden "Mann" brauchte, um so ein Mammut niederzuringen. Da war einfach kein Raum für solche Eitelkeiten wie dogmatische Geschlechterollenmodelle. Wer fit war, ging auf die Jagd, wer nicht, blieb daheim und machte andere Arbeiten. Für jeden fand sich eine nützliche Arbeit. In meiner Zeit in Papua-Neuguinea sah ich einmal einen Mann etwas stier blickend in einem Ananansfeld sitzen und fragte die andern Leute im Dorf, was er da machte. Es stellte sich heraus, dass er geistig behindert war und man ihm halt die Obhut über das Feld anvertraut hatte, weil er eben das mit dem, was ihm geistig geblieben war, gut hinbekam. Der war in die Gemienschaft integriert und trug, im Rahmen seiner Möglichkeiten, zum Gemeinwohl bei. Auf den Trobriand-Inseln, ebenfalls vor PNG, lebte ein Völkchen, bei denen es wiederum sexuell sehr freizügig zuging. Dort galt die Prämisse, wer Bock drauf hat, der darf. Egal wie alt er ist. Das Kriterium war die Zustimmung, nicht das Alter. Erst wenn man sich gegenseitig nicht mehr wirklich braucht und das persönliche Interesse am Wohlergehen der anderen Mitglieder nicht mehr gegeben ist, jetzt wird die Gemeinschaft zur Gesellschaft, kann man es sich leisten, solche Dogmen in größerer Zahl aufzustellen und damit nötigenfalls Mitglieder zu verlieren. Man sagt, wer keine Probleme hat, mache sich welche. Eine kleine, etwa steinzeitliche, Gemeinschaft ist vom Feind umgeben, die ganze Welt ist feindlich gesinnt. Das schweißt zusammen und lässt einen notgedrungen toleranter seinen Mitgliedern gegenüber sein. Auch weil man sich ja perönlich kennt und weiß, dass der andere ein verlässlicher netter Kerl ist, obwohl er vielleicht eine seltsame Vorliebe für rosa Tutus hat. Der ist dann halt so - so what? Wenn er genügend zum Futtern ranschafft ist doch alles gut. Eine Gesellschaft dagegen, in der im Grunde genommen jeder versucht, auf Kosten der Anderen seine Schäfchen in's Trockene zu bringen, weil man sich persönlich nicht mehr kennt und demzufolge eigentlich herzlich egal ist, braucht aber Feindbilder, um gezwungenermaßen zusammenzuhalten. Man muss den Leuten Angst vor irgendetwas machen, und dafür eben die Feindbilder. Es werden also (vermeintlich) entbehrliche Minderheiten dämonisiert und stigmatisiert, um Angst oder abscheu vor ihnen haben zu können und so den Rest der Gesellschaft zu einen. Die Toleranz als Ganzes hat auch in unserer ach so toleranten Gesellschaft eben nicht zugenommen in letzter Zeit. Für jede Entstigmatisierung einer Gruppe (Homosexuelle) wurde dafür eine andere Gruppe (Pädophile) um so stärker stigmatisiert. Unter'm Strich sind wir so intolerant wie ehedem. Nur die Opfergruppen haben sich geändert, das ist alles.
 
Sehr interessante Darlegung, @Panzerreiter. Im Grunde das genaue Gegenteil der 'Gruppenkonformitäts'-These. Allerdings in sich völlig schlüssig. Das regt - zumindest mich gerade - stark zum Nachdenken an. Möglicherweise mit dem Resultat, bisherige Vorstellungen ggf. korrigieren oder auch revidieren zu müssen. @Fifill - Es kann gut sein, dass Du in Deinen zahlreichen Beiträgen im Grunde die gleiche Botschaft vermitteln wolltest. Ich hoffe Du bist nicht böse, dass Panzerreiter's Beispiele für mein Verständnis mehr aus dem Leben gegriffen und damit für mich nachvollziehbarer sind als Verweise auf mögliche Verhaltensmuster, mit denen ich noch nie was zu tun hatte ;-)
 
Ah, verstehe. Wir sind jetzt bei diesem Punkt natürlich nich mehr bei der binären, zwingenden (naturwissenschaftlichen) Logik (eindeutig richtig, eindeutig falsch), sondern bei der stufenlosen, analogen, soziokulturellen Denkweise. Da sehe ich das im Grunde ähnlich wie du, nur möglicherweise genau umgekehrt :D
Bezieht sich das nun auf den post von @vibackup oder auf meinen? ?( Auf jeden Fall finde ich das eine interessante Sichtweise, die mich an eine Hypothese von Megan McLaughlin aus ihrem Artikel "The woman warrior: gender, warfare and society in medieval Europe" erinnert. Es geht dabei um eine tendenziell größere Akzeptanz von Frauen in einer Kriegerrolle (also in ähnlicher Weise eine Ausnahmeerscheinung wie eine Transgenderperson), so lange die Kriegsführung auf der Basis von häuslichen Gemeinschaften organisiert war. Das Argument ist das gleiche: wenn ich miterlebt habe, wie die kleine Wanda von Kindesbeinen an immer lieber mit den Holzschwertern ihrer Brüder gespielt hat, kann dies begünstigen, dass auch bei der erwachsenen Wanda akzeptiert wird, wenn sie zur Verteidigung ihrer Interessen zum Schwert greift. (Mehr dazu hoffentlich bald in meinem noch ausstehenden 3. Beitrag zu "kämpfenden Frauen im Mittelalter".)
@Fifill - Es kann gut sein, dass Du in Deinen zahlreichen Beiträgen im Grunde die gleiche Botschaft vermitteln wolltest. Ich hoffe Du bist nicht böse, dass Panzerreiter's Beispiele für mein Verständnis mehr aus dem Leben gegriffen und damit für mich nachvollziehbarer sind als Verweise auf mögliche Verhaltensmuster, mit denen ich noch nie was zu tun hatte ;-)
Aber nicht die Bohne! :thumbup: Ich hab ja mittlerweile auch eingesehen, dass die sehr spezielle Thematik Transgender/Crossdressing wohl nicht der optimale Aufhänger für den Einstieg in die Problematik - wir sehen das Mittelalter ohne es zu merken durch unsere "Brille" und gehen dadurch von augenschleinlich selbstverständlichen Grundannahmen aus, ohne deren Gültigkeit zu überprüfen - ist. Ich sehe die Transgender-Thematik natürlich erstmal vom Gender-Standpunkt aus (das liegt vermutlich wiederum an meiner "Geschlechter-Brille" ^^ ). Daher finde ich es umso interessanter, dass @Panzerreiter sich der gleichen Sache über eine andere Schiene nähert.
 
Wenn du das Geschlechtsmodell einer anderen Kultur zugrundelegst, dann schau mal, ob es in der zugehörigen Götterwelt auch so zu finden ist. Dann suche nach Göttern der Kultur, die du untersuchen möchtest und finden sich dort mehr als zwei Geschlechter, hast du einen Anhaltspunkt, dass sich dies auch so in der zu untersuchenden Kultur widergespiegelt haben könnte...
Das halte ich für einen interessanten Ansatz, den ich im Falle der Wikinger auf deren Sagenwelt ausdehnen möchte. Tatsächlich gibt es nämlich im Bezug auf die literarischen Motive der Schildmaiden und der Walküren den Ansatz, diese unter dem Blickwinkel eines dritten Geschlechts zu betrachten (z.B. hier: https://www.researchgate.net/publication/265880316_The_Valkyrie's_Gender_Old_Norse_Shield-Maidens_and_Valkyries_as_a_Third_Gender) Neben der weiter unten mehrfach angesprochenen geschlechtichen Uneindeutigkeit der Gestalt des Loki, gibt es auch eine derartige Begebenheit mit Odin im Zusammenhang mit einer weiblichen Form der Magie (seiðr): "Mythology tells that it was Freya, the love goddess, who taught Odin how to do seid, and even if both men and women could use this kind of magic, it was looked upon as a female skill. [...] Men who used seið had to “cross” the gender barrier in a way that was not socially or morally accepted. They were “argr”, homosexual. Also Odin crossed the gender barrier and dressed up as a woman when he did the magic of seið. In Lokesenna (“Loki’s quarrel “) we hear that Loki mocks Odin by saying that he once dressed as a woman and did the magic of said as if he was a volve." Quelle: https://avaldsnes.info/en/viking/vikingkvinner Zur Deutung im Bezug auf die Geschlechterordnung der Wikinger muss man sich diese Beispiele zweifelsohne nochmal wesentlich genauer anschauen und sie sowohl in den literarischen, als auch in den gesellschaftlichen Kontext setzen. (Könnte sein, dass ich mich da beizeiten ran wage...)
Auch wenn das Christentum und der Islam eher patriarchalisch geprägt sind, so akzeptieren sie doch die Weiblichkeit.Obwohl sie ihren einzigen (worauf er ja auch vehement besteht) Gott ziemlich eindeutig als Mann ansehen. Von daher müsste schon unser binäres Geschlechtsmodell seit 2.000 Jahren ausgelaufen sein...
Was die katholische Kirche und das Akzeptieren der Weiblichkeit angeht würde ich mal sagen: aber vermutlich nur, weil die Spezies Mensch ohne Frauen zum Aussterben verurteilt wäre - und auch nur unter lautem Zähneknirschen. Für die 'Gottesmutter' Maria und ihren Sohnemann Jesus haben sie sich dann ja auch den Propagandatrick mit der 'jungfräulichen Empfängnis' einfallen lassen. ;) Islam, Christentum und Judentum gehen zudem auf den gleichen Ursprung zurück: sie alle beziehen sich auf Abraham als Stammvater und verehren den selben einen Gott. Unser heutiges beschränk... ääähhhh... binäres (meinte ich natürlich :D ) Geschlechtermodell geht m.E. ganz wesentlich auf diese Tradition zurück.
[...] meine Intension des Vorschlages war, dass die erwähnten (ich nenne sie mal kurz) Multigenderkulturen teils auch polytheistisch geprägt sind und vermutlich etwas nicht gesellschaftlich geächtet wird, dass sich in deren Götterwelt findet.
Zu den 'Wikingern' verweise ich im Übrigen auf Loki, den man ja sehr wohl als "divers" bezeichnen könnte und der sowohl Vater als auch Mutter von diversen Entitäten des nordischen Pantheons war, wobei selbst die Grenze zwischen "menschlichem" Gott und Tier verschwimmt; nach Deiner Methodik daher also eindeutig nicht nur ein Indiz pro multipolares Geschlechtermodell, sondern auch pro Selbstbefriedigung und pro Sodomie. Auch die Walküren zeigen nach dieser Lesart eindeutig, dass kämpfende oder zumindest kampfbereite und -fähige Frauen zumindest religiös nicht tabu gewesen sein können.
Andererseits: das Götterargument hat mir zu denken gegeben... die Figur des Loki repräsentiert schon ein eigenes Rollenbild, das in erheblichem Kontrast zu den Asen und (den wenigen) Vanen steht...Das führt zu Freya, die die gefallen Krieger zusammen mit Odin aufteilt in Vorbereitung auf Ragnarök... Nicht so die typisch weibliche Rolle, weniger wegen der modernen Geschlechterrollen, sondern wegen der selbstverständlichen Nähe zu einer mit militärischen Mitteln zu lösenden herannahenden Katastrophe...
Entsprechende Glaubensvorstellungen können zumindest ein Indiz dafür sein, dass die Idee von Geschlechtsvarianten jenseits von eindeutig Mann oder eindeutig Frau in der Gedankenwelt vorkamen, also im wörtlichen Sinne 'denkbar' waren. Auf diesem Hintergrund halte ich auch die literarischen Bilder der Schildmaiden und Walküren für bedeutsam, die beide männliche und weibliche Charakteristika in sich vereinen. Sicher nicht ausreichend für einen "Beweis", aber u.U. wichtige Indizien.
 
Oder denkst Du wirklich, dass ein Sven Schlammlederssson auf seiner kleinen Farm in Island jemals auch nur einen Gedanken an den Unterschied zwischen Geschlechtsrolle und Geschlechterrolle verschwendet hat? Reine Mutmaßung völlig ohne jeden Beleg: die Leute hatten damals echt andere Sorgen im Kopf.
Um sich mit solchen Dingen auseinander setzen zu können und zu wollen, braucht eine Kultur erstmal eines - die Zeit und die Muße dafür.
An mehreren Stellen wurde argumentiert, dass sich die Menschen im Frühmittelalter wohl kaum Gedanken über Geschlechtermodelle und ihren individuellen Platz darin gemacht haben werden. Darauf möchte ich kurz (oder auch länger, mal schauen ;) ) eingehen: Hier gibt es zwei Ebenen, die zu betrachten sind: die der Geschlechterordnung einer Gesellschaft und die des Individuums, das sich nicht in eine der gesellschaftlichen Geschlechterkategorien einordnen kann. Auf der gesellschaftlichen Ebene entwickelt sich ein wie auch immer geartetes Geschlechtermodell aufgrund der eigenen Traditionen und ggf. fremder Einflüsse, auch ganz ohne dass sich jemand tiefschürfende Gedanken über Geschlechtertheorie macht. Die Mitglieder der Gesellschaft nehmen die herrschende Geschlechterordnung weitestgehend unbewusst - gewissermaßen mit der Muttermilch - auf und geben sie auf gleichem Wege weiter an die nächste Generation. Auf der individuellen Ebene macht sich das "anders sein", so es nicht gesellschaftskonform ausgelebt werden kann, durch Leidensdruck bemerkbar. Z.B. fühlt sich eine biologisch weibliche, transsexuelle Person von ihrer Persönlichkeit und Geschlechtsidentität her als Mann und hat oftmals auch das Gefühl, in einem falschen Körper zu stecken (mit Körperteilen, die da nicht hingehören). Spätestens mit der Pubertät wird das zu einer starken psychischen Belastung führen, für die die jeweilige Person irgendeine Methode der Bewältigung finden muss. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit eines Suizids sehr hoch. Ein Indiz dafür, wie stark der Drang sein kann, den falschen Körper entsprechend der gefühlten Geschlechtsidentität zu 'modifizieren', sehe ich bei den phrygischen Galloi, die sich selbst entmannten. Siehe: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Galloi#Die_Selbstentmannung Was man allerdings auch in Betracht ziehen muss, ist, wie prekär die jeweilige Lebenssituaton war. Unter anahltender Lebensgefahr treten nämlich psychische Störungen (z.B. hervorgerufen durch eine nicht ausgelebte Geschlechtsidentität) nachweislich in den Hintergrund. (Man konnte in Studien zeigen, dass selbst schwere, erbliche psychische Erkrankungen, wie bspw. Schizophrenie, bei Menschen in Krisengebieten in geringerem Maße auftreten. Es handelt sich jedoch um keinen nachhaltigen Effekt. In sofern vergleiche ich es mit dem Phänomen, dass ein Mensch im Angesicht der Gefahr 'übermenschliche' Kraftreserven mobilisieren kann, auf die er später im 'Normal-Modus' keinen Zugriff mehr hat.) Musste ein betroffener Mensch und seine Gemeinschaft (aktiv) ums blanke Überleben kämpfen, dann wird derjenige sich tatsächlich keine Gedanken um sein "anders sein" gemacht haben, zumindest so lange die akute Bedrohung andauerte. Aber angesichts der reichen Kultur der Wikinger kann man glaube ich nicht davon ausgehen, dass die Menschen permanent im Survival-Modus waren.
 

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