Ah, verstehe. Wir sind jetzt bei diesem Punkt natürlich nich mehr bei der binären, zwingenden (naturwissenschaftlichen) Logik (eindeutig richtig, eindeutig falsch), sondern bei der stufenlosen, analogen, soziokulturellen Denkweise. Da sehe ich das im Grunde ähnlich wie du, nur möglicherweise genau umgekehrt
In einer, meist kleinen, Gesellschaft, in der man zum Bestreiten des täglichen Lebensunterhalts tatsächlich auf die anderen Mitglieder persönlich angewiesen ist - das ist dann keine "Gesellschaft" mehr sondern eine "Gemeinschaft" - hat man Wichtigeres zu tun als sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Die Forschung ist sich inzwischen ziemlich sicher (aufgrund von Grabbeigaben und Untersuchungen an den menschlichen Überresten), dass etwa bei Steinzeitjägern regelmäßig junge, fitte Frauen dabei waren, ganz einfach, weil man jeden "Mann" brauchte, um so ein Mammut niederzuringen. Da war einfach kein Raum für solche Eitelkeiten wie dogmatische Geschlechterollenmodelle. Wer fit war, ging auf die Jagd, wer nicht, blieb daheim und machte andere Arbeiten. Für jeden fand sich eine nützliche Arbeit. In meiner Zeit in Papua-Neuguinea sah ich einmal einen Mann etwas stier blickend in einem Ananansfeld sitzen und fragte die andern Leute im Dorf, was er da machte. Es stellte sich heraus, dass er geistig behindert war und man ihm halt die Obhut über das Feld anvertraut hatte, weil er eben das mit dem, was ihm geistig geblieben war, gut hinbekam. Der war in die Gemienschaft integriert und trug, im Rahmen seiner Möglichkeiten, zum Gemeinwohl bei. Auf den Trobriand-Inseln, ebenfalls vor PNG, lebte ein Völkchen, bei denen es wiederum sexuell sehr freizügig zuging. Dort galt die Prämisse, wer Bock drauf hat, der darf. Egal wie alt er ist. Das Kriterium war die Zustimmung, nicht das Alter. Erst wenn man sich gegenseitig nicht mehr wirklich braucht und das persönliche Interesse am Wohlergehen der anderen Mitglieder nicht mehr gegeben ist, jetzt wird die Gemeinschaft zur Gesellschaft, kann man es sich leisten, solche Dogmen in größerer Zahl aufzustellen und damit nötigenfalls Mitglieder zu verlieren. Man sagt, wer keine Probleme hat, mache sich welche. Eine kleine, etwa steinzeitliche, Gemeinschaft ist vom Feind umgeben, die ganze Welt ist feindlich gesinnt. Das schweißt zusammen und lässt einen notgedrungen toleranter seinen Mitgliedern gegenüber sein. Auch weil man sich ja perönlich kennt und weiß, dass der andere ein verlässlicher netter Kerl ist, obwohl er vielleicht eine seltsame Vorliebe für rosa Tutus hat. Der ist dann halt so - so what? Wenn er genügend zum Futtern ranschafft ist doch alles gut. Eine Gesellschaft dagegen, in der im Grunde genommen jeder versucht, auf Kosten der Anderen seine Schäfchen in's Trockene zu bringen, weil man sich persönlich nicht mehr kennt und demzufolge eigentlich herzlich egal ist, braucht aber Feindbilder, um gezwungenermaßen zusammenzuhalten. Man muss den Leuten Angst vor irgendetwas machen, und dafür eben die Feindbilder. Es werden also (vermeintlich) entbehrliche Minderheiten dämonisiert und stigmatisiert, um Angst oder abscheu vor ihnen haben zu können und so den Rest der Gesellschaft zu einen. Die Toleranz als Ganzes hat auch in unserer ach so toleranten Gesellschaft eben nicht zugenommen in letzter Zeit. Für jede Entstigmatisierung einer Gruppe (Homosexuelle) wurde dafür eine andere Gruppe (Pädophile) um so stärker stigmatisiert. Unter'm Strich sind wir so intolerant wie ehedem. Nur die Opfergruppen haben sich geändert, das ist alles.