@Fifill - Polemik wäre hier auch völlig fehl am Platz. Bei dieser Diskussion bin ich emotionsfrei und ergebnisoffen. Ich möchte weder mit aller Macht belegen, dass es so etwas gab, noch möchte ich nach Beweisen dagegen suchen. Deswegen finde ich das Thema gerade besonders spannend. Viele von uns kennen es in Hinsicht auf ihre eigene Darstellung. Man findet etwas schön, und hofft, dass man dafür dann auch Belege findet. Das macht so eine Sache dann nicht völlig neutral. Bei diesem Thema jetzt bin ich selbst nicht betroffen, was meine Darstellung angeht. Also in der Recherche unbelastet ;-) Du schreibst von Rolkenbildern/Rollenverteilungen, die wir von unserer heutigen Zeit nicht auf 'damals' anwenden können. Da bin ich ganz bei Dir. Denn unsere heutige Gesellschaft funktioniert völlig anders als eine vor 1.000 Jahren. Heutzutage kann man als noch so exzentrisches Individuum (ganz allgemein gehalten) wunderbar überleben. Wenn man will, kann man auch ohne Freunde, ohne Familie, ohne gesellschaftliche Kontakte sich irgendwie durchschlagen. Klar, mit gewissen Einschränkungen, aber jeder kann sich komplett selbst verwirklichen. Genau das hätte vor tausend Jahren überhaupt nicht funktioniert. Da war jeder Mensch zum Überleben auf Gruppenstrukturen angewiesen. Um zur Gruppe dazu gehören zu dürfen, muss man deren Regeln und Normen akzeptieren (ist heute immer noch so). Wer das nicht wollte, war draußen. Nur war das schlimmer als heute, denn dadurch war in der Regel auch das nackte Überleben in Frage gestellt. Wenn jeder einzelne auf ein funktionierendes Gruppenkonzept angewiesen ist, bleibt sehr wenig Raum für individuelle Abweichungen von der Norm. Die romantische Geschichte vom schrulligen Einsiedler mag für uns ganz nett klingen, passt allerdings überhaupt nicht ins gesellschaftliche Konzept eines dünn besiedelten und kargen Skandinaviens im Frühmittelalter. Eine Sache finde ich gerade noch auffällig: beim 'Rollentausch' finden sich im Grunde nur Frauen, die ganz oder teilweise die Männerrolle übernehmen. Schilderungen vom Gegenteil sind eher dürftig, oder liege ich da falsch? Kriegerinnen beispielsweise werden immer wieder gerne belegt (oder zumindest wird es versucht). Aber Hausmänner, die alleine die Kinder groß ziehen, die spinnen, weben, nähen, kochen - wo sind die alle? Hier muss man sich doch auch die Frage stellen, warum das so ist. Fand der Rollentausch freiwillig statt, aus eigener Entscheidung, und ohne Not? Oder war es viel mehr die Notwendigkeit der äußeren Umstände, die eine Person in diese Rolle hinein gedrängt haben? Hatte die Witwe mit fünf Kindern vielleicht einfach keine andere Wahl, als mit eigenen Händen Haus und Hof zu verteidigen, den Betrieb des Mannes weiter zu führen, die Finanzen zu verwalten, und und und? Wurde sie deswegen vielleicht (als Anerkennung dafür) mit Waffen bestattet? Da wir das nicht wissen, müssen wir nach dem Prinzip der größten Wahrscheinlichkeit gehen. Und das besagt, dass ein frühmittelalterlicher Skandinavischer Mann im rosa Tutu einfach nicht der gesellschaftlichen Norm seiner Zeit und seiner sozialen Gruppe entsprach, und deswegen mit Nicht-Akzeptanz und Ausgrenzung zu rechnen hatte. Anpassung, und den Schutz der Gruppe genießen, oder im rosa Tutu einsam im Wald leben mit der stetigen Gefahr, zu verhungern oder versklavt zu werden - den meisten Menschen wird die Wahl wohl nicht schwer gefallen sein. Nochmal zu den Gräbern. Auch die Autoren des Artikels merken selbst an, dass osteologische Nachweise mit einer gewissen Fehlertoleranz zu betrachten sind. Deswegen müssen wir auch hier nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit verfahren. Drei Zähne und zwei Schalenfibeln - ziemlich sicher ein Frauengrab, weil Schalenfibeln normalerweise nur von Frauen getragen wurden. Drei Zähne und eine Axt - ziemlich sicher ein Männergrab, weil bla bla bla. Deswegen sagt auch ein - aufgrund osteologischer Befunde vermutliches - Männergrab mit Scheibenfibeln und Perlenkette erst einmal null und nichts darüber aus, dass der Verstorbene zu Lebzeiten eine Drag-Queen gewesen sein könnte. Dieser Schluss ist auch nur diese Vermutung ist im höchsten Maße unseriös und auch nicht wissenschaftlich. Nochmal: ein Toter bestattet sich nicht selbst. Das tun immer andere für ihn. Und über deren Intentionen können wir nur raten. Waren die Fibeln und die Perlenkette vielleicht das einzig wertvolle, was vom Familienbesitz nach einem Überfall des Dorfes noch übrig war, und ist deswegen mit ins Grab gegeben worden? Waren es vielleicht die Lieblingsschmuckstücke des Mannes, die er immer gern an seiner Frau gesehen hat? Wir haben nicht den Hauch einer Ahnung über die Hintergründe dieser Bestattungen, deswegen können wir da auch nichts mit gutem Gewissen rein interpretieren. Wenn wir einen Haufen gut erhaltener Ötzis & Co hätten, also quasi mitten aus dem Leben gerissen, und so gefunden, wie damals gestorben - DAS hätte eine valide Aussagekraft. Gäbe es eine Handvoll solcher Funde, eindeutig männlich, komplett mit Trägerrock, Dosenfibeln, und Spinnwirteln in der Tasche - DANN könnte man gute Schlüsse ziehen. Nur aus den Grabfunden - definitiv nicht. Nochmal - bei Frauen ist die Lage anders. Als Kerl konnte man einfach neu heiraten, wenn die Frau verstarb. Da 'musste' ein Mann normalerweise nicht der Not gehorchend die weibliche Rolle übernehmen. Als Frau war es immer schon schwieriger (außer, die Frau war sehr wohlhabend oder einflussreich und deswegen begehrt). Deswegen ist die Zahl der Frauen, die in Männerrollen schlüpfen mussten, entsprechend größer. (puh, wieder zehnmal so viel Text wie geplant ^^)