Diskussionsbeitrag zum Phänomen "kämpfende Frauen im Mittelalter" (Teil 2) – Nur in Notsituationen?

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Unabhängig vom konkreten Ergebnis, geht es mir um die generelle Frage: Darf ich bei der Erforschung einer fremden Kultur und Gesellschaft voraussetzen, dass deren Geschlechtermodell auf dem gleichen binären Grundmodel basiert wie unser heutiges? In Anbetracht der Tatsache, dass es rund um den Globus in vielen Kulturen traditionelle, nichtbinäre Geschlechtermodelle gibt, bin ich der Ansicht, dass eine solche Grundannahme (binäres Modell) nicht statthaft ist und zu systematischen Fehlern in den Schlussfolgerungen führt.
 
Vielleicht kann mal ein Kenner der (Spät-)Antike etwas zu dem sagen, was ich mal von jemandem hörte, der sich mit den Römern beschäftigt hatte... Er meinte, dass es römische Quellen gäbe, die berichten, dass bei einigen germanischen Stämmen wohl soetwas gegeben haben soll wie eine Art Regel dass Frauen keine Männerköeidung zu tragen hätten, mit dem Schluß, dass es wohl nur nötig gewesen sei etwas zu regeln, dass es auch tatsächlich gegeben haben müsste...
 
@Fifill - An dieser Stelle bitte kurz Stopp. Von 'zwangsläufig' habe ich nicht geschrieben. Lediglich - und das ganz bewusst - immer nur von 'vielleicht', 'möglicherweise', 'wahrscheinlich'. Nun drehen wir uns aber auch ein wenig im Kreis. Das klassische (biologische) Geschlechtermodell der Natur ist nunmal ein binäres. Ja, Ausnahmen gibt es in der Natur, aber wie der Name schon sagt, sind dies Ausnahmen und nicht die Regel. Ebenso ist die klassische familiäre Rollenverteilung keine Ausnahme, sondern die gängige Norm. Wie weiter oben schon gesagt, geht man bei unbekannten Situationen erst einmal davon aus, dass sie der Norm entsprechen, weil dies am Wahrscheinlichsten ist. Deswegen muss die Schlussfolgerung nicht lauten 'beweise mir, dass auch die Kultur der Wikinger der Norm entsprach', sondern genau umgekehrt. Aber um auf das eigentliche Thema Deines Beitrags zurück zu kommen: Konnten Frauen (bezogen auf die Wikingerzeit) die soziale (!) Rolle des Mannes einnehmen? Ja, vermutlich schon. Konnten Frauen Kriegerinnen sein (mit der korrekten Definition eines Kriegers, nicht aus einer Not/Notwehr-Situation heraus)? Eher nein, da z.B. die Gesetze es einer Frau bei Strafe untersagten, Waffen zu führen. Ausnahmen gibt es immer und überall, und 'denkbar' ist auch alles. Aber ich gehe davon aus, dass Du nach harten Fakten suchst, nicht nach Fiktion ;-)
 
Hier noch ein interessanter Beitrag zu 'kämpfenden Frauen', den ich eben in einer FB-Gruppe gelesen habe: "Von Bedeutung ist eine Textstelle in dem Bericht über den Krieg zwischen dem Kiewer Fürsten Swjatoslaw, Herrscher aus der Dynastie der Rurikiden, und den siegreichen byzantinischen Truppen Johanes Tzimiskes. Skylitzes berichtet von „(...) weiblichen Gefallenen. Diese Frauen waren genauso gekleidet und bewaffnet wie die Männer und hatten gemeinsam mit diesen gegen die Griechen gekämpft, Swjatoslaw hatte sie also als Kämpferinnen eingesetzt.“ Dieser Bericht wird von vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen herangezogen, um ihre These, dass Kriegerinnen zur sozialen Normalität der Wikinger gehörten, zu untermauern. Während die anderen vier Quellen tatsächlich als Zeugnisse herangezogen werden können, um zumindest ein sehr vereinzeltes Auftreten von Kriegerinnen, die freiwillig an Kampfgeschehen teilnahmen, zu belegen, erfüllt Skylitzes Bericht dieser Anforderung aus zweierlei Gründen nicht. Ingrid Peter lieferte 2015 hierfür im Zuge ihrer Untersuchungvon Skylitze schlüssige Argumente. Zwar konnte sie Syklitzes Notiz als historisch korrekt belegen, jedoch schreibt sie einerseits, dass es zu dem Zeitpunkt des Krieges schon zu einer vollständigen Hybridisierung zwischen den Rusʼ bzw. den Warägern und den ortsansässigen Stämmen mit unterschiedlichen Ethnien gekommen war. Andererseits, und das ist die noch wichtigere Erkenntnis, handelte es sich bei den Frauen, die in der Schlacht fielen, um Prostituierte und weibliche Kriegsgefangene. Swjatoslaw bewaffnete also in seiner aussichtslosen Situation gegen die Griechen nicht skandinavische Wikingerinnen, die freiwillig ihre Leben dem Kriegshandwerk widmeten, sondern Sklavinnen und weibliche Gefangene. Diese Textstelle wurde daher bis dato inkorrekterweise in den Quellenkorpus für Belege wikingischer Kriegerinnen mit einbezogen. " Quelle: „Der Wikinger-Mythos:Analyse des Wandels des Wikinger-Mythos im Laufe der Jahrhunderte und verbreiteter Annahmen welche diesen konstituieren“ verfasst von / submitted by Raphaela Watzek; http://othes.univie.ac.at/46597/1/48876.pdf
 
@ Dunio, Beitrag 41 Das waren nicht die Römer oder Germanen, das steht schon im Alten Testament, 5. Mose Kap.22 Vers 5 und bezog sich auf crossdressing bei beiden Geschlechtern. Ich denke man kann davon ausgehen, dass Verbote erst dann ausgesprochen werden, wenn es öfters einen Anlass dafür gibt ;-) Zum Beispiel tauchte bei mir auf der Arbeit mal ein Typ auf (kein Scheiß!), der einen Stringtanga auf dem Kopf trug - quasi als Stirnband. Dafür gibt es meines Wissens nirgends ein Verbot (nicht mal "Erregung öffentlichen Ärgernisses"). Es war auch das bisher einzige Mal in meinem Leben, dass ich sowas gesehen habe. Jedenfalls ist es nirgends schriftlich verboten, eine wie auch immer geartete Unterhose auf dem Kopf zu tragen.
 
@Dunio - Lass' uns differenzieren zwischen 'Gebot/Regel/Verbot' und 'Strafe bei...'. Ersteres wird verwendet, um ein unerwünschtes Verhalten zu vermeiden oder proaktiv zu unterdrücken. Zweiteres ist erst dann notwendig, wenn die Regeln zu oft übertreten wurden. Eine Regel als gesellschaftliche Konvention muss also noch nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass man daraus auf das regelmäßige Übertreten derselben schließen könnte. Anders allerdings, wenn eine geregelte und festgesetzte Strafe notwendig wird. Dann lässt sich schon mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten, dass die Regel zu oft gebrochen wurde, und das unerwünschte Verhalten in der Tat vorhanden war.
 
@ Dunio, Beitrag 41 Das waren nicht die Römer oder Germanen, das steht schon im Alten Testament, 5. Mose Kap.22 Vers 5 und bezog sich auf crossdressing bei beiden Geschlechtern.
Allerdings ist das Alte Testament für die heidnische Kultur im wikingerzeitlichen Skandinavien von zu vernachlässigender Bedeutung. ;) Das Christentum verbeitete sich dort erst zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert.
Vielleicht kann mal ein Kenner der (Spät-)Antike etwas zu dem sagen, was ich mal von jemandem hörte, der sich mit den Römern beschäftigt hatte... Er meinte, dass es römische Quellen gäbe, die berichten, dass bei einigen germanischen Stämmen wohl soetwas gegeben haben soll wie eine Art Regel dass Frauen keine Männerköeidung zu tragen hätten, mit dem Schluß, dass es wohl nur nötig gewesen sei etwas zu regeln, dass es auch tatsächlich gegeben haben müsste...
Mir ist eine derartige Regelung zwar nicht aus römischen Quellen bekannt, jedoch aus einem wikingerzeitlichen skandinavischen Gesetzestext (den ich dummerweise gerade nicht wiederfinden kann), ebenfalls mit dem Hinweis "zwischen den Zeilen zu lesen". (Um den "Text zwischen den Zeilen" einschätzen zu können, fehlt es mir allerdings definitiv (noch) am nötigen Wissen über diese Kultur.)
 
"... Ingrid Peter lieferte 2015 hierfür im Zuge ihrer Untersuchungvon Skylitze schlüssige Argumente. Zwar konnte sie Syklitzes Notiz als historisch korrekt belegen, jedoch schreibt sie einerseits, dass es zu dem Zeitpunkt des Krieges schon zu einer vollständigen Hybridisierung zwischen den Rusʼ bzw. den Warägern und den ortsansässigen Stämmen mit unterschiedlichen Ethnien gekommen war. Andererseits, und das ist die noch wichtigere Erkenntnis, handelte es sich bei den Frauen, die in der Schlacht fielen, um Prostituierte und weibliche Kriegsgefangene. ..." Quelle: „Der Wikinger-Mythos:Analyse des Wandels des Wikinger-Mythos im Laufe der Jahrhunderte und verbreiteter Annahmen welche diesen konstituieren“ verfasst von / submitted by Raphaela Watzek; http://othes.univie.ac.at/46597/1/48876.pdf
Vielen Dank für den Hinweis. Der Vorfall war mir bekannt - und bislang tatsächlich als ein Indiz "pro Wikingerkriegerinnen". Wenn die Einwände von Ingrid Peter tatsächlich so zutreffen, kann ich diesen Vorfall getrost von der Pro-Liste streichen. Mal schauen, ob ich an das Buch von I. Peter irgendwo herankomme... Vielen Dank auch für den Link zu der Magisterartbeit. Das Thema klingt sehr interessant. Hab sie schon heruntergeladen und auf meinen virtuellen "lesen"-Stapel gelegt. Über unsere "Geschlechternormen-Diskussion" denke ich noch nach. Da reden wir offenbar engagiert aneinander vorbei.
 
Den virtuellen 'muss ich irgendwann mal lesen' Stapel kennen wir vermutlich alle :thumbsup: Den Beitrag oben fand ich noch aus einem ganz anderen Grund spannend. Er widerlegt meine 'Ötzi in Situ'-Ansicht ein wenig, bzw. relativiert die Aussagekraft eines solchen Fundes zumindest. Natürlich denkt man bei einer gefallenen Frau auf dem Schlachtfeld in Männerklamotten und mit vollen Waffen erst einmal an eine Kämpferin (im weitesten Sinne). Dass eventuell auch schlicht aus der Not heraus einfach jeder/jede halbwegs taugliche Person kurzerhand in die Schlacht geworfen wurde, zieht man erst danach in Betracht.
 
Ich fürchte, in dem Punkt, ob man ein binäres Geschlechtermodell als am wahrscheinlichsten annehmen darf, werden wir zu keinem Konsens kommen. Die Argumentation aufgrund der biologischen Geschlechterstruktur der Spezies Mensch, die in ihren Grundzügen zweigeteilt ist – aber eben auch Varianten dazwischen aufweist – greift aus meiner Sicht zu kurz angesichts der Komplexität des Phänomens der Geschlechterrollen, welches weit über die biologischen Aspekte hinausgeht. Dass das binäre Geschlechtermodell mitnichten alternativlos ist, zeigen die vielen Kulturen in nahezu allen Regionen dieser Welt, in denen sich auf der Basis der gleichen biologischen Bedingungen nichtbinäre Geschlechtermodelle mit 3 oder sogar noch mehr Geschlechtern entwickelt und – trotz Kolonisierung und z.T. auch Christianisierung – in vielen Fällen bis heute erhalten haben. (Siehe bspw. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Drittes_Geschlecht#Gegenwart) Wenn ich eine fremde Kultur, die nicht auf der römisch-griechischen und christlichen Tradition basiert, hinsichtlich ihres Geschlechterrollenmodels untersuche und dabei von der Prämisse ausgehe, dass ein binäres Geschlechtermodell die wahrscheinlichste Variante darstellt, ist es gleichsam so, als hätte die Optik, mit der ich mein Forschungsobjekt untersuche, mitten im Sichtfeld einen blinden (oder zumindest stark verschwommenen) Fleck. Es geht bei dieser Problematik nicht um das Forschungsobjekt – in unserer Diskussion also die Gesellschaft im wikingerzeitlichen Skandinavien, sondern um die 'Optik' durch die hindurch ich das Forschungsobjekt betrachte – hier also die engere 'Schablone' eines binären oder die weitere eines potentiell nichtbinären Geschlechtermodells. Nur wenn die 'Optik' den Bereich, den ich untersuchen möchte, vollständig und scharf abbildet, erhalte ich belastbare Ergebnisse. Ob ich dann im Bereich zwischen oder jenseits der binären Hauptgeschlechter fündig werde, steht auf einem anderen Blatt. Aber ausschließen kann ich es nur, wenn ich zuvor auch dort hin geschaut habe. Wie schon gesagt, scheinen wir bei dieser Thematik unterschiedliche Perspektiven zu haben. Gleichwohl bedanke ich mich herzlich für die engagierte Diskussion. :danke Ich kenne keinen besseren Weg, das eigene Gedankenkonstrukt auf die Probe zu stellen.
Den virtuellen 'muss ich irgendwann mal lesen' Stapel kennen wir vermutlich alle :thumbsup:
Angesichts der unzähligen neuen, spannenden Themen, die mir hier im Forum und bei der Recherche ständig unterkommen, wünsche ich mir jedesmal, ich könnte Informationen so schnell aufnehmen wie Commander Data aus Star Trek. ^^
Den Beitrag oben fand ich noch aus einem ganz anderen Grund spannend. Er widerlegt meine 'Ötzi in Situ'-Ansicht ein wenig, bzw. relativiert die Aussagekraft eines solchen Fundes zumindest. Natürlich denkt man bei einer gefallenen Frau auf dem Schlachtfeld in Männerklamotten und mit vollen Waffen erst einmal an eine Kämpferin (im weitesten Sinne). Dass eventuell auch schlicht aus der Not heraus einfach jeder/jede halbwegs taugliche Person kurzerhand in die Schlacht geworfen wurde, zieht man erst danach in Betracht.
Das zeigt mal wieder sehr deutlich, dass man jeden Quellenfund sehr genau untersuchen sollte, bevor man versuchen kann, Schlüsse daraus zu ziehen. In diesem Sinne sehe ich auch meinen Aufruf, hier weitere Beispiele für "kämpfende Frauen im Mittelalter" zu sammeln. Jeder Hinweis in den Quellen kann gewissermaßen nur ein Ausgangspunkt für eine tiefergehende Recherche sein. Wäre schließlich ziemlich peinlich, auf nem Mittelalterevent mit Verweis auf Skylitzes als Wikingerkriegerin rumzulaufen und dann als in Rüstung verkleidete Prostituierte geoutet zu werden. :groehl
 
Deswegen hatte ich bewusst den Zusatz 'biologisch' gewählt. Ich denke Du stimmst mir zu, dass der Großteil aller Arten hier auf unserem Planeten - biologisch gesehen - in Männchen und Weibchen differenziert wird (Ausnahmen sind existent, ist klar). Die darüber hinaus gehende Definition von weiteren Geschlechtern bzw. Geschlechterrollen setzt einen bewussten schöpferischen Akt eines Individuums mit Intelligenz und Ich-Bewusstsein voraus. Vermutlich wirst Du auch hier noch zustimmen. In der Wissenschaft geht man immer erst einmal von der einfachsten möglichen Erklärung aus. Bei einer unbekannten Kultur, in der vornehmlich (auch hier mag es einzelne Ausnahmen geben) zwei biologische Geschlechter vorherrschen (Menschen sind biologisch (!) gesehen nunmal in der Mehrzahl 'nur' klar definierte Männlein und Weiblein), geht man bis zum Beweis des Gegenteils auch von der einfachsten Erklärung aus. Zwei biologische Geschlechter, ergo zwei GeschlechterROLLEN. Warum? Weil das mögliche Vorhandensein von zusätzlichen Rollen eben keine zwingende Notwendigkeit ist, sondern - siehe oben - einen aktiven und bewussten Prozess erfordert. Solange es für diesen Prozess keinen sauber belegten Nachweis gibt, ist die Annahme desselben lediglich Wunschdenken bzw. schlichtweg einfach falsch und unwissenschaftlich. Bislang kenne ich keinen Nachweis, dass die Wikis n + x Geschlechterrollen beschrieben oder gelebt haben. Deswegen, bei aller Liebe, es geht nicht um unterschiedliche Sichtweisen. Von mir aus können die Wikis ruhig dutzende Rollen gehabt haben. Mit meinem ganzen Geschreibsel will ich Dir auch nichts ausreden oder mich auf die Seite von Pro oder Contra schlagen. Ich versuche Dir lediglich aufzuzeigen, dass Deine Herangehensweise auf falschen Annahmen beruht und so einfach nicht korrekt ist. Das ist weder wissenschaftlich noch seriös, weil Deine Prämisse nicht wertneutral ist. Du vergleichst immer mit anderen Kulturen und Thesen, aber es fehlt der konkrete Beleg, dass diese auch auf die Kultur der Wikis anwendbar ist. Die - sinngemäß - gleiche Debatte gibt es bei unzähligen anderen geschichtlichen und archäologischen Themen auch. Wer eine These aufstellt, muss sie auch belegen. "Es wäre möglich, beweise mir doch, dass es nicht so war" ist - gelinde formuliert - Bildzeitungs-Niveau. Du denkst, dass etwas möglich ist? Gut, kann sein, aber bis zum Beweis ist es eben NICHT so, sondern nur eine Vermutung. Nochmal: ich bin weder pro noch contra, und wenn ich zu dem Thema etwas be- oder widerlegen kann, freue ich mich gleichermaßen. Deine ersten Beiträge hier im Thread waren streng faktenbasiert und auch für einen Außenstehenden aufgrund der Quellen logisch gut nachvollziehbar. Und - noch wichtiger - auch nachprüfbar. Aber zumindest unsere Debatte ist mittlerweile ins polemische Geschwurbel abgedriftet, und das finde ich sehr schade.
 
Kleiner Nachtrag noch eben: es ist in der Argumentation und auch in der persönlichen Rezeption ein immenser Unterschied, ob man von 'nicht auszuschließen' oder von 'möglich / denkbar' spricht. Meine weiter oben geschilderte Wiki-Jeans... Wir können sie nicht ausschließen, weil alle notwendigen Einzelelemente für die betreffende Zeit (!) und die Region(en) (!) sauber belegt sind. Aber 'möglich' wird sie dadurch noch lange nicht, und gefunden haben wir auch noch keine. Der 'blinde Fleck' liegt in dem Fall bei demjenigen, der etwas für möglich erachtet, ohne dass es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt. Andere Kulturen und andere Zeitstellungen begünstigen eben NICHT chronologisch und regional völlig unterschiedliche 'Möglichkeiten'. Erst wenn deren Verbindung klar und sauber nachgewiesen ist, DANN können wir eventuell Parallelen ziehen. Aber ganz gewiss nicht als Grundprämisse.
 
Die Spezies Mensch existiert zwar mehrheitlich in 2 Grundgeschlechtsvarianten, daneben gibt es aber auch eine - alles in allem (also wenn man alle derartigen Phänomene zusammennimmt) gar nicht so kleine - Gruppe von Menschen, die sich in ihrer Identität nicht eindeutig einem dieser Hauptgeschlechter zuordnen lässt. Wir sind durch das binäre Geschlechtermodell unserer Kultur geprägt und haben gelernt, alle Varianten jenseits der beiden Hauptgeschlechter als Abweichung von der Norm - und bis vor wenigen Jahren sogar noch immer offiziell als Krankheit - zu betrachten. Viele andere Kulturen haben hingegen die biologische Realität von 2 Hauptgeschlechtern und einer Minderheit von nichtbinären Geschlechtsvarianten ganz anders in ihren Geschlechtermodellen umgesetzt und dieser Vielfalt in Form eines 3. Geschlechts (oder sogar noch weiterer) Rechnung getragen. Das Konzept von 3 Geschlechtern ist also nicht mehr oder weniger ein Gedankenkonstrukt als das Konzept von 2 Geschlechtern mit Ausnahmen, die von der Norm abweichen. Grundsätzlich sind Geschlechterrollen immer ein Gedankenkonstrukt der jeweiligen Gesellschaft, mit der diese die biologische Realität in der ein oder anderen Weise interpretiert. Die wissenschaftliche Regel, die besagt, dass von allen Theorien, die ein Phänomen zutreffend beschreiben, die einfachste zu bevorzugen ist - auch bekannt als "Ockhams Rasiermesser", bedeutet auch, dass jene Theorie zu bevorzugen ist, die mit weniger Sonderfällen auskommt. Und in dieser Hinsicht ist eine nichtbinäre Sichtweise* auf menschliche Geschlechterrollen der binären zweifellos überlegen. *In diesem Falle meine ich damit nicht die von mir angesprochenen traditionellen nichtbinären Geschlechtermodelle, sondern die heutige Sichtweise auf Geschlechterrollenmodelle. Ich fürchte, für dich ist deine "binäre Geschlechterbrille" so selbstverständlich, dass du gar nicht merkst, dass du sie auf hast.
Ich versuche Dir lediglich aufzuzeigen, dass Deine Herangehensweise auf falschen Annahmen beruht und so einfach nicht korrekt ist. Das ist weder wissenschaftlich noch seriös, weil Deine Prämisse nicht wertneutral ist.
Genau das gleiche versuche ich dir aufzuzeigen. Ich habe mich - aufgrund meiner persönlichen Situation - intensiv mit den Zusammenhängen von "***" (biologisches Geschlecht) und "Gender" (soziales Geschlecht) und den diesbezüglichen wissenschaftlichen Konzepten befasst und kann auf dieser Basis deiner Argumentation leider nur widersprechen.
Deine ersten Beiträge hier im Thread waren streng faktenbasiert und auch für einen Außenstehenden aufgrund der Quellen logisch gut nachvollziehbar. Und - noch wichtiger - auch nachprüfbar. Aber zumindest unsere Debatte ist mittlerweile ins polemische Geschwurbel abgedriftet, und das finde ich sehr schade.
Bevor du meine Argumentation als "polemisches Geschwurbel" mit "Bildzeitungs-Niveau" abtust, befasse dich doch bitte erstmal eingehender mit der Materie. ò.ó Meine Argumentation beruht nach wie vor auf anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem interdisziplinären Feld der Gender-Forschung. Allerding ist diese Thematik derart komplex, dass ich sie in diesem Thread eigentlich nicht noch weiter ausbreiten möchte. Bei Interesse würde ich das Thema aber in einem separaten Thread (ggf. im OT-Bereich?) noch vertiefender diskutieren. Da wir ja die ganze Zeit über ein hypothetisches 3. Geschlecht diskutieren, möchte ich mal ein Beispiel dafür geben, was man sich eigentlich darunter vorstellen kann: In den altnordischen Sagas gibt es das Motiv der Schildmaiden. Dabei handelt es sich um unverheiratete junge Frauen, die - entgegen der klassischen Frauenrolle in der Wikingergesellschaft - in die männliche Kriegerrolle wechseln und sich fortan wie ein Mann kleiden und verhalten. Es handelt sich also um eine biologisch weibliche Person, die jedoch vollständig eine Männerrolle annimmt. Wenn diese Person heiratet, legt sie die Männerrolle wieder ab und kehrt von da an in die klassische Frauenrolle zurück. Dieses Phänomen wird mittlerweile verbreitet unter dem Blickwinkel eines 3. Geschlechts diskutiert, bspw. in folgenden Publikationen: "The Valkyrie’s Gender: Old Norse Shield-Maidens and Valkyries as a Third Gender", Kathleen M. Self "Shieldmaidens in the Gesta Danorum (I-IX) The collective literary imaginary and history", Francesca Zappatore Es gibt also zumindest in der literarischen Überlieferung der Wikingerkultur ein starkes Bild von etwas, dass sich sehr gut als 3. Geschlecht auffassen lässt (inklusive der Aspekte Crossdressing und Transgender ;) ). Ein 3. Geschlecht definiert einen gesellschaftlich anerkannten Rahmen, in dem eine Person sich abweichend von den Rollenvorstellungen verhalten kann, die ihrem biologischen Geschlecht (genauer gesagt Personen, mit bestimmten primären körperlichen Geschlechtsmerkmalen) in der jeweiligen Kultur traditionell zugeschrieben werden. Wesentliche Aspekte sind dabei, dass die Person diese Identität vollständig annimmt - also nicht nach belieben zwischen den Geschlechterrollen hin und her wechselt oder sie gar mischt - und dass es einen bestimmten Rahmen gibt, innerhalb dessen das Verhalten als gesellschaftskonform gilt. (Und ja, ich stimme dir in dem Punkt zu, dass ein Wikingerkerl in einem rosa Tutu sehr wahrscheinlich außerhalb eines solchen Rahmens gelegen hätte. ;) ) Umgekehrt zu den Schildmaiden gibt es in vielen Kulturen mit nichtbinären Geschlechtermodellen eine Rolle für Personen, die biologisch (primär) männlich sind, jedoch vollständig die Rolle einer Frau annehmen. Oftmals ist dafür eine spezielle Rolle vorgesehen, die mit den Aufgaben eines Priesters, Schamanen, Heilers... verbunden ist. Vielleicht hilft diese Beispiel ja noch irgendwie weiter. Ansonsten müssen wir uns für's erste glaube ich darauf einigen, dass wir bei dieser Thematik unterschiedliche Perspektiven haben.
 
Kleiner Nachtrag noch eben: es ist in der Argumentation und auch in der persönlichen Rezeption ein immenser Unterschied, ob man von 'nicht auszuschließen' oder von 'möglich / denkbar' spricht.
Dem muss ich wiedersprechen: wissenschaftlich gesehen bedeutet 'nicht auszuschließen', dass etwas 'möglich/denkbar' ist. Da ich meine Argumentation möglichst wissenschaftlich aufzubauen versuche, verwende ich diese Begriffe auch entsprechend. Wie wahrscheinlich etwas 'denkbares' dann ist, steht auf einem anderen Blatt und muss jeweils untersucht werden. Gegen die Wikinger-Jeans spricht aus meiner Sicht, dass sie wesentlich komplexer genäht ist als die bislang aus der Wikingerzeit bekannten Funde von Hosen (insbesondere was Taschen, Ziernähte und die Verwendung von Knöpfen an Beinkleidung angeht) und meines Wissens bislang auch keine Übergangsformen gefunden wurden, die auf die Existenz eines solchen Hosentyps hinweisen. ;)
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Dann nimm doch mal den Prozentsatz der biologisch weiblichen Transgender heute und beziehe den auf die Bevölkerungsdichte Nordeuropas im 8 bis 11Jhrd. Ist das eine Auftretenswahrscheinlichkeit, die für dich als Grundlage ausreichend wäre? Wenn ja, dann hab Spaß an einer solchen es-wäre-denkbar-gewesen-Darstellung... Sei anderen gegenüber ehrlich bezüglich bisher noch ausstehenden Belege, bis du mit Sicherheit sagen kannst, das es tatsächlich so war.
 
Moinsen und boff =O War nun knapp drei Tage nicht so aktiv dabei und lese alles, nur nicht das was ich (also ich persönlich) auf die Ursprüngliche Anfrage erwarten würde. Geht mir das nur so :/ Also nur mal so am Rande, du suchst Informationen bzw. harte Fakten ob es kämpfende Frauen (belegt) gab, und falls das ja für welche Waffengattung und dann nur für FrüMi oder eher HoMi / oder beides bzw. ???
 
Wir nähern uns langsam dem Kern der Sache :) Deine Formulierung 'viele', 'häufig', usw. ist eine zutiefst subjektive Einschätzung. Diese dann (noch) zu extrapolieren kann eigentlich nur schief gehen. Um eine wirklich valide Aussage treffen zu können, braucht es zunächst eine ausreichend große Anzahl von untersuchten Kulturen mit einem klaren zeitlichen Rahmen und einer möglichst breit aufgestellten regionalen Verteilung. Diese Menge n muss dann wissenschaftlich als ausreichend repräsentativ für eine weitere Untersuchung abgesegnet werden. Für die Untersuchungsmethoden, ob Kultur XY als 'trifft zu' bzw. 'trifft nicht zu' eingestuft wird, braucht es neutrale und reproduzierbare Maßstäbe. Erst danach lässt sich eine Aussage darüber treffen, ob das Ergebnis 'selten', 'gelegentlich', 'regelmäßig', 'häufig', oder 'mehrheitlich' zu beobachten ist. Erst ab dem Status 'häufig' kann man gaaaanz vorsichtig anfangen, unter Beachtung strenger Maßstäbe Vermutungen über Kulturen außerhalb der Stichprobe auszusprechen. Du hast EINIGE Beispiele genannt. Schön und gut. Wie viele Gegenbeispiele hast Du betrachtet? Nach welchen Kriterien wurde die Auswahl getroffen? Auf welchen Quellen basieren die Entscheidungen, ob eine Kultur als Pro oder Contra eingestuft wurde? Sind die Quellen wissenschaftlich akzeptiert? Sind die Quellen für diese Art der Untersuchung überhaupt qualifiziert? Etc... Man kann einfach nicht eine Handvoll Beispiele nennen, die die eigene These untermauern, und daraus dann eine Allgemeingültigkeit für alle Kulturen dieser Erde, egal wann, wo, und wie sie gelebt haben, ableiten.
 
@Thirk - An der Off-Topic-Debatte bin ich im Grunde schuld. Ich schrieb: "Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich." Und wie das manchmal halt so ist, dann kommt man irgendwann von Hölzchen auf Stöckchen ;-)
 
Ist ja nicht schlimm, war halt bloß etwas erstaunt zur Fülle und Inhalt.
"Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich."
Sehe ich zumindest für den Angelsächsischen Raum vor Hastings ebenso. Die Begründung hierfür habe ich bereits mit einem anderen Link versucht zu verdeutlichen. Vielleicht erklärt es dieser Link etwas besser. https://link.springer.com/article/10.1007/s11061-016-9489-1 Zitat Man was considered until the twentieth century to include women by implication, though referring primarily to males.
 
Wie Thirk so erstaunt aber treffend feststellte, ist hier im Thread eine lebhafte Off Topic Debatte über die wissenschaftliche Methodik bei der Untersuchung von Geschlechterrollen entstanden. Da diese sich aber m.E. um einen wesentlich Knackpunkt bei der Betrachtung von Geschlechterrollen dreht, schlage ich vor, die Diskussion in diesem neuen Thread fortzusetzen. (Ein weiterer Grund ist, dass ich den Vorwurf, meine (Gegen-)Argumentation sei "polemisches Geschwurbel" mit "Bildzeitungs-Niveau" so nicht auf mir sitzen lassen möchte.
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