Der Thread hat sich mittlerweile ja ziemlich von der ursprünglichen Thematik wegbewegt. Trotzdem ist der momentane Punkt, an dem die Diskussion angelangt ist, nicht völlig unpassend, da eine konstante Argumentations- und Logikkette vom Eingangspost hierhergeführt hat. Ich kehre ihm also noch nicht den Rücken. Zu früh gefreut!
Panzerreiter, ich fürchte, ich habe nicht so viel Grütze im Kopp. Mir wird das gerade zu komplex. Wer ist "der Staat"? Meiner Meinung nach wir alle. Wer definiert, was eine Randgruppe ist - wenn eine Gruppierung weniger als x Prozent Zulauf hat? Weiß man das denn immer so genau? Und hat eine Demokratie (was wir in D auch nicht mehr so wirklich sind) nicht die Pflicht, sich zu wehren?
Na, das sind ja gleich mindestens 3 Fragen auf einmal. Also, das geht nun wirklich nicht.
Zuerst mal: Entschuldigung, wenn meine zugegebenermaßen mehrdimensionalen Ansichten bisweilen überfordern. Ich weiß, dass ich nicht immer einfach argumentiere, Asche auf mein Haupt. Gleichwohl sehe ich es als Pflicht der Vernunft, komplexe gesellschaftliche Problematiken auch komplex und kritisch durchzudenken anstatt sie auf einfache, politisch korrekte Rezepte und Schlagwörter zu reduzieren. Unter Lehrern gibt es den Spruch "Lehren heißt lügen", was die Problematik zeigt, dass man einem Thema, das man sehr stark didaktisch reduziert (=vereinfacht) hat, schlicht nicht mehr gerecht wird. Eine allzu stark vereinfachte Wahrheit wird leicht zur Unwahrheit, weil eben viele Details nicht ausreichend berücksichtigt werden. Den "Staat" definiere ich wie folgt:
Die Gesamtheit der für das Regieren einer Nation zuständigen Institutionen., also insbesondere die drei Gewalten Exekutive, Legislative und Jurisdiktion. "Wir alle" sind das Volk, die Gesellschaft, die Nation, aber nicht der
Staat. Für mich ist diese Unterscheidung sehr wichtig, denn ohne sie gäbe es eine ganze Reihe köstlicher Paradoxa: So hätte sich die RAF damals eindeutig selbst bekämpft, die Schwarzen hätten sich in Südafrika selbst unterdrückt und die Geschwister Scholl wären Nazis gewesen. Es heißt ja auch: "Wir sind ein Volk" und nicht "wir sind ein Staat". So viel zu den einfachen Fragen, jetzt wird es etwas komplizierter und vor allem unangenehmer, den das Folgende will keiner lesen und schon gar nicht wahrhaben: Definieren, wer eine Randgruppe ist, das tut eigentlich die Gesellschaft, also das, was Du als "wir alle" bezeichnest. Dabei urteilt schlicht die Mehrheit über die Minderheiten, das ist in jeder Gesellschaft so, das hat nichts mit Demokratie zu tun. Die Frage ist nun, ob diese gesellschaftliche Mehrheit einer Minderheit positiv, gleichgültig oder ablehnend gegenübersteht. In letzterem Fall muss man von einer Randgruppe sprechen, da diese Minderheit nicht innerhalb der Gesellschaft integriert und akzeptiert leben kann, sondern an den Rand gedrängt, also ausgegrenzt wird. Oder mit einem modernen Wort: diskriminiert. Dass es nun schlecht ist, Minderheiten zu diskrimieren, nur weil sie anders sind, das ist ja heutzutage breiter gesellschaftlicher Konsens. Dafür, oder besser dagegen gibt es sogar höchstamtliche Beauftragte. (Interessant ist in diesem Zusammenhang dass nach der Logik, den gsellschaftlichen Mechanismen und der Bedeutung des Wortes nur Minderheiten von der Mehrheit diskriminiert werden können, weshalb die Frage philosophisch ein wenig irritierend ist, wie Frauen angeblich diskriminiert werden können. Von welcher noch signifikant größeren Mehrheit denn? Ich wusste nicht, dass der Männerüberschuss in Deutschland so gravierend ist...) Nun definiert sich aber naturgemäß jede Gesellschaft nicht zuletzt über eine Abgrenzung gegen Andere. Auch das ist nun mal so. Eine Gesellschaft braucht also "die Anderen" um in sich selbst einig zu sein. Das ist wie in einer Familie. Da gibt es Zank und Zoff unter den Kindern, aber wenn sich jemand von außen einmischt... Zum Anderen braucht eine Gesellschaft, um zusammenzuhalten, neben der Definition ihrer selbst auch Bedrohungen. Ja, ehrlich, das ist so. So sehr wir alle beteuern, ohne Bedrohungen leben zu wollen, wir brauchen sie. Denn ohne sie hätten wir keinen Grund, zusammenzuhalten. Gegen wen denn auch? Dann hätte jeder die Muße, nur seine eigenen Interessen zu verfolgen und es hieße sehr schnell jeder gegen jeden. Das wäre das Ende einer Gesellschaft. Grundsätzlich verlangt also jede Gesellschaft nach Randgruppen, sie braucht sie, um sich selbst zu legitimieren. Deshalb werden immer Minderheiten diskriminiert, ausgegegrenzt und sogar verfolgt werden, bis der Mensch dereinst vielleicht einmal eine höhere Stufe der sozialen Evolution erreicht hat. Damit eine solche Minderheit auch guten Gewissens ausgegrenzt werden kann, muss sie vorher dämonisiert werden. Denn den Netten Herrn Weizenbaum von nebenan, der zwar etwas wunderlich, aber nett, hilfsbereit und harmlos ist, möchte natürlich niemand ausgrenzen. Erst, wenn man zu der Überzeugung gelangt ist, dass dieser Herr Weizenbaum in Wahrheit kleine Kinder betatscht, im Keller schwarze Messen abhält, an Not und Elend der Leute schuld ist und nebenbei die zionistische Weltherrschaft anstrebt, wird er zu einem validen Feindbild. Die Frage ist also nicht,
ob eine Gesellschaft Minderheiten verfolgt, sondern
welche Minderheiten eine Gesellschaft verfolgt. Das ändert sich mit der Zeit. Auffallend aber ist, und diese Beobachtung sollte in einem Geschichtsforum eigentlich jeder durch sein Hobby gemacht haben, dass sämtliche verfolgten Minderheiten der Geschichte zu Unrecht dämonisiert worden waren, um aus ihnen legitime Feindbilder zu machen. Ob das nun Christen, Hexen, Indianer, Juden oder Homosexuelle (wegen denen uns ewige göttliche Verdammnis drohe, wenn wir so was tolerieren) waren. Zum Teil einigt sich eine Gesellschaft selbst, bedingt durch den aktuellen Zeitgeist, quasi basisdemokratisch auf ein Feindbild. Hostis ex nihilo sozusagen. Das ist aber eher selten, denn eine solche Autokoordination ist nicht ohne Schwierigkeiten. In der Regel braucht es zur Verankerung eines Feindbildes in einer Gesellschaft eine koordinierende Instanz. Zum Einen ist das oft die organisierte Religion, wobei es hier egal ist, welche Glaubensrichtung sie vertritt, weshalb ich den Begriff "Kirche" bewusst nicht gewählt habe. Ob ein Papst, ein Ayatollah oder der große Gronf da die Stripoen zieht oder ziehen lässt, tut nichts zur Sache. Zum Anderen waren und sind es oft die weltlichen Mächtigen, die Regierenden, also das, was ich oben als "der Staat" bezeichnet habe, die hier zündeln. Denn ohne Gesellschaft keine Regierung und ohne Feindbild keine Gesellschaft. Also kurz: Ohne Feindbilder keine Macht für die Regierenden. Der Staat (ut descriptus) hat also ein starkes Motiv, seine Gesellschaft mit Feindbildern zu versorgen.
Wenn hier, wie ja offenbar der Fall, politisch aktive Leute mitlesen, dann sollten die jetzt nicht reflexartig negieren und dementieren, sondern anfangen, über die Grundlagen und Mechanismen politischer Willensbildung nachzudenken. Der Staat hat nicht nur das Motiv dazu, er tat das auch seit Menschengedenken und er tut es immer noch. Verschiedene Parteien präferieren natürlich verschiedene Feindbilder. Den Rechten zufolge sind in der Regel Immigranten, freie Journalisten und Linke die Wurzel allen Übels und somit bekämpfenswert. Kämen sie an die Macht, dann würden sie alles daran setzen, das Volk von der Verderbtheit und der Verabscheuungswürdigkeit dieser Personengruppen zu überzeugen (versuchen sie ja auch jetzt schon), entsprechende Gesetze zu erlassen und diese natürlich durch entsprechend zurechtgebogene wissenschaftliche Studien und getürkte Statistiken zu legitimieren. Soweit, so gut, dem letzten Absatz stimmt zweifelsohne jeder hier zu. Also höchste Zeit, mich an Adenauer zu halten und mich unbeliebt zu machen, damit ich auch ernstgenommen werde.