In der äthiopisch-orthodoxen Kirche sind Kreuztätowierungen auf der Stirn üblich und werden angeblich seit dem 14. praktiziert. Allerdings ist Äthiopien weit, weit weg (und im Mittelalter war der Weg eher weiter). Trotzdem wäre es möglich gewesen, z. B. in Jerusalem, Rom oder einem anderen großen Wallfahrsort einem tätowierten Priester oder Pilger zu begegnen. Für Europäer kenne ich in der Zeit des Mittelalters nicht den geringsten Hinweis auf Tätowierungen. Ötzi ist zu der Zeit schon rund 3.700 Jahre tot, taugt also wenig als Gewährsmann. Das gleiche gilt für die Skythen und Sarmanten, die sich nachweislich ebenfalls tätowierten. Aber auch deren Kultur ging rund 1.200 Jahr vor Beginn des Mittelalters unter. Außerdem kamen beide Völker nie nach Europa; das waren die Mongolen, die sich m. W. aber nicht tätowierten. Die Nadeln in den Wikingergräbern können genauso zu allem möglichen gedient haben - vor allem zum Nähen! So lange nicht, wie in dem kürzlich gefundenen sarmantischen Grab, Töpfe mit Pigmenten mitgegeben wurden, lässt sich aus Nadeln daher nicht auf Tattoos schließen. Wie gesagt: Für Europäer kenne ich in der Zeit des Mittelalters nicht den geringsten Hinweis auf Tätowierungen. Nicht einmal bei expliziten Beschreibungen von Wilden, Randständigen oder Exoten werden irgendwo Bilder, Ornamente oder Schriftzüge auf der Haut erwähnt. Wohl wurde aber über schwarz-weiße Menschen, wie Josweis im Willehalm oder Feirefiz im Parcival geschrieben, Menschen mit Mündern auf dem Bauch, riesigen Ohren oder solche, die ihre Füße als Sonnenschirm benutzen. Die Vorstellungskraft trieb offenbar seltsame Blüten - aber sie reichte nicht, um sich "illustrierte" Menschen vorzustellen. Ich weiß außerdem, dass noch Anfang des 20. Jahrhunderts die Matrosen im Hamburger Hafen wegen ihrer Tätowierungen bestaunt wurden. Das ist zwar lange nicht mehr Mittelalter, aber doch deutlich dichter dran, als Ötzi. So gesehen halte ich das Fehlen von Tätowierungen im MA für deutlich wahrscheinlicher, als deren Vorhandensein.