Das, was merlina sagt, ist im Prinzip richtig, nur mit der Einschränkung, dass nicht alles, was heute zum Würzen gebraucht wird, auch im Mittelalter gebräuchlich war und umgekehrt und dass das durchaus nicht nur für Kräuter galt. Wenigstens die gebildeten Leute "wussten," dass das Essen auf den Einzelnen abgestimmt werden musste, weil sonst Krankheiten drohen - bzw. dass das richtige Essen das körperliche Wohl fördert. Um das zu verstehen, muss man die damaligen Vorstellungen der Ursachen von Krankheit und Gesundheit kennen. Bakterien, Viren usw. waren ja noch vollkommen unbekannt. Daher suchte man die Ursachen im Gleichgewicht der Körpersäfte: Gelbgalle, Schwarzgalle, Blut und Phlegma (Schleim). Gerieten die aus dem Gleichgewicht, wurde der Mensch krank; stellte man das Gleichgewicht (wieder) her, wurde er gesund. Analog zu den Säften schrieb man auch Lebensmitteln, Kräutern, Gewürzen und sogar Mineralien bestimmte Qualitäten zu. Zwiebeln z. B. galten als trocken und heiß, weshalb Cholerikern - bei denen die Gelbgalle dominiert - strikt von deren Genuss abgeraten wird, während Phlegmatiker viel davon essen sollen. Da auch die Gicht einem Übermaß an kaltem Schleim zugeschrieben wird, sollten Gichtkranke nicht nur Schweinefleisch, sondern auch Fisch meiden, weil Fisch nach dieser Vorstellung viel Feuchtigkeit und starke Kälte in sich trägt. Um dem zu begegnen, sollten selbst Gesunde Fischgerichte mit wärmenden, trockenen Gewürzen temperieren, um nicht krank zu werden. Was davon auch im "einfachen Volk" bekannt war, lässt sich nur schwer feststellen. Aber welche Alternativen eventuell genutzt wurden, ist erst recht Spekulation, zumal das System der Säftelehre auf die Antike zurück geht, also reichtlich Zeit hatte, sich zu verbreiten. Und um auf die Frage von Ödenburgerin zurück zu kommen: Wie ich oben schon geschrieben habe, kann man davon ausgehen, dass zu jeder Hufe ein Kräutergarten für den Eigenbedarf gehörte. Selbst bei Einsiedlern wird immer wieder das Gärtchen erwähnt und Traktate über den Gartenbau gibt es viele. Es ist denkbar, dass jemand sich auf den Anbau von Würzkräutern spezialisiert hat. Da der Anbau die zuverlässigste Quelle für Kräuter jeder Art ist, wäre höchstens jemand, der kein eigenes Land und keine sozialen Bindungen besaß, losgezogen, um in der "Wildnis" Kräuter zu sammeln, wobei unter "Wildnis" unbebautes Land zu verstehen ist, auf das niemand Eigentumsansprüche erhebt. Solche Flächen sind aber schon im Hochmittelalter rar. Das vorausgeschickt halte ich schon die Existenz von "Kräuterfrauen" für unwahrscheinlich. Soweit es aber tatsächlich ein armes Weiblein in einem Hüttchen am Dorfrand gegeben hat, hätte die alles gesammelt, was die Wildnis hergibt, schon um sich selber über Wasser zu halten. Eine Spezialisierung auf irgendwas wäre unter den Voraussetzungen gar nicht möglich. Aus meiner Sicht gehört die Darstellung einer Heilkundigen mit zu den reizvollsten überhaupt. Nur reicht es dafür nicht, sich einen Korb zu nehmen und ein paar Kräuter reinzulegen oder irgendwo Kräuterbündel zum Trocknen aufzuhängen. Man muss sich mit einem vollkommen anderen Welt- und Menschenbild auseinander setzen. Das ist am Anfang schwierig, aber wenn man erstmal angefangen hat, öffnet sich ein ungemein spannendes weites Feld von Möglichkeiten.