Silvia, wir denken doch schon in Schubladen. Das ist ja das Problem. Wir vergleichen Gromi mit voll authentischer Darstellung, als ob es dazwischen nichts gäbe. Womit du möglicherweise eher (d)ein Problem beschreibst, ist nicht, dass wir nicht in Schubladen denken, sondern dass die Szenewirklichkeit sich nicht an diese Schubladen hält. Die Quelle von Streit liegt bestenfalls marginal in irgendwelchen Reibereien zwischen Leuten, die wissen, was sie tun und wollen und dazu auch stehen. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Authentiker einen Ork als Spinner abtut, denn es ist hier klar erkennbar, dass dieser keine historisch korrekte Darstellung macht und dies auch nicht glaubt oder vorgibt. Klar, der Authentiker würde den Ork nicht nach Bärnau lassen, aber da geht letzterer schon von sich aus nicht in Klamotte hin, weil er das genauso sieht. Auch bekennende GroMis, von denen es eine riesige Menge gibt, haben kein Problem mit der Szene der historisch Korrekten und umgekehrt auch nicht. Solange sich die Leute klar erkennbar an ihre Schubladen halten, hat niemand ein Problem, zumindest nicht in den 15 Jahren, seit denen ich das verfolge. Es gibt eine Handvoll Ausnahmen in einer Szene der hysterisch Korrekten, aber die haben immer und mit allem ein Problem; das wird niemand und kein Leitfaden / Kitguide / Kriterienkatalog der Welt ändern können. Das ist aber wurscht, solange man es wagt, diese Leute einfach zu ignorieren, nach ein paar notorischen Querulanten will ich nicht meine Auslegung, -richtung und -lebung des Hobbys der geschichtliche Darstellung ausrichten. Und schon gar nicht die Meinung, die ich von anderen Leuten habe. Probleme kann es geben, wenn etwa ein Authentiker helfen möchte und Details kritisiert, weil er nicht erkennt, dass sein Gegenüber mit historischer Korrektheit nicht viel am Hut hat und fälschlicherweise annimmt, derjenige stebe eine historisch möglichst korrekte Darstellung an. Das kann dann der Fall sein, wenn die Ausstattung des Letzteren besser ist, als für einen Gromi üblich, aber nicht so perfekt, wie der Erstere für eine historisch korrekte Darstellung annimmt. Jetzt passt er in keine Schublade mehr. Er ist für einen Gromi zu "gut", für einen Authentiker zu "schlecht" (Mann, wie ich diese ganzen Begriffe wegen ihres innewohnenden Konfliktpotentials hasse, aber mir fallen in dem Zusammenhang, über den ich schreibe, keine besseren ein, die nicht über die Maßen sperrig und lächerlich wären - sieh dazu divese Threads über political correctness...). Das ist es, was ich weiter oben angemerkt habe: In der ganze Sache spielen viel mehr Parameter eine Rolle, die zudem allesamt eben nicht digital, sondern analog sin, also stufenlos mit unendlich vielen, winzigen Variationsmöglichkeiten, als dass sie jemals in Schubladen passen würden. Das Denken in Schubladen ist aber eine der großen, menschlichen Schwächen. Wir versuchen ständig unbewusst, unsere Mitmenschen in Schubladen zu kategorisieren und zwängen dabei viele in eine Lade, in die sie schlicht nicht gehören. Das ist nicht deren Fehler, sondern unserer, schließlich haben wir uns eine Lade gezimmert, die nicht passt. In der Gesellschaft führt diese Diskrepanz zwischen Schubladendenken und Wirklichkeit dazu, dass wir Menschen kriminalisieren, die niemandem was tun, geschweige denn schaden wollen, aber deren Verbrechen darin besteht, schlicht nicht so zu sein, wie wir das gerne hätten. Und im Hobby ist das nicht viel anders; könnten wir die Leute für eine schlechte Klamotte einsperren, wir würden es tun. Zumindest einige von uns und die würden so laut wettern, agitieren und ob dieser Untat irgendwelche gesamtgesellschaftlichen Gefahren konstruieren, dass der Rest von uns Mitläufern es mittragen würde. Also nochmal: Das Problem sind nicht die fehlenden Schubladen, sondern die Leute, die diese fordern. Denn genau dieses Schubladendenken ist der Kern des Konflikts, nahezu jeden zwischenmenschlichen oder gesellschaftlichen Konfliktes in der Welt, aber eben auch speziell dieses Szeneproblems. Jetzt diese Schubladen in irgendwelchen Dokumenten festzuschreiben, hieße, die Menschen dazu zu zwingen, sich einer verqueren Weltsicht zu unterwerfen und statt der Lösung das Problem zu inthronisieren. Volksnah ausgedrückt: Den Bock zum Gärtner zu machen. So wie unsere Gesetzesbücher die irdischen Artefakte und unsere Staatsjuristen die Avatere des Gottes der Ungerechtigkeit sind, aus genau demselben Grunde. Und weil Marled ja nicht blöd ist, genau wie die Leute damals im Mittelalter, falls das noch nicht erwähnt wurde, will sie auch kein Regelwerk, sondern eine Anleitung, wie man zumindest abschätzen kann, wie historisch korrekt das, was ein Darsteller da macht, eigentlich ist. Eine Anleitung deshalb, weil sie für Leute gedacht ist, die von der Materie weit weniger Ahnung haben als einige von uns hier (nicht geschichtlich-fachliche Ahnung sondern Ahung von dem Problem, abzuschätzen, was man von einer pseudogeschichtlichen Darstellung halten soll - pseudogeschichtlich sind wir nämlich alle, egal wie authentisch), namentlich Verantwortliche für Fernsehdokus, Veranstalter von Geschichtsaktionen, welche einen gewissen Anspruch an historische Korrektheit haben, Lehrkräfte, die LH in ihren Unterricht einbauen wollen und andere Leute, die zumindest nominell einen Bildungsauftrag verfolgen. Nach welchen Kriterien können diese Leute die historische Korrektheit von Gruppen oder Einzelnen, die sie "buchen" wollen, einschätzen? Und nach welchen Kriterien können diese Gruppen ausgehen, eingeschätzt zu werden? Soweit, so sinnvoll in der Absicht. Solche Kriterien festzulegen ist aber nicht viel anders als das oben kritisierte Schubladenproblem. Das Problem ist ähnlich wie eines, das ich weiland in meiner Zulassungsarbeit thematisiert habe: Der Geschichtsunterricht soll bei den Schülern "Geschichtsbewusstsein" erzeugen. Das ist das vorrangigste Ziel des Geschichtsunterrichts an der Schule. Soweit, so gut, das ist eben genau das, was die Populärbildung etwa in Form von Dokumentationen im Fernsehen auch schaffen soll. Es geht eben nicht darum, isoliertes Faktenwissen zu generieren, etwa, was eine Daubenschale ist und wie sie hergestellt wird oder welche Webarten in der skandinavischen Eisenzeit verbreitet waren. Das ist akademisches Wissen, für Nichtakademiker also mehr oder weniger schlicht Nerd-Wissen. Nice to know, aber für den Durschnittsempfänger solcher Edutainement-Produkte selbst im anspruchvollsten Falle vollkommen überflüssig. Sie dienen nur als Mittel zum Zweck, um zu dem übergeordneten Ziel, der Vermittlung von Geschichtsbewusstsein, zu gelangen. Es sind gleichsam die Sprossen einer Leiter und es gibt viele Leitern, die auf's Dach führen. Nun ist aber genau das die Problematik an der Schule: Schafft es denn der Geschichtsunterricht (GU), Geschichtsbewusstsein zu erzeugen? Nein, in aller Regel nicht, seien wir ehrlich. Von 20 Schülern vielleicht bei einem und der hat das Geschichtsbewusstsein eher trotz und nicht wegen der Schule. Warum? Weil die Schule einen pädagogischen Kardinalfehler macht: Vor lauter Detailwissen, das vermittelt wird, verliert sie das eigentliche Ziel aus den Augen, das Geschichtsbewusstsein. Der Grund dafür ist übrigens bemerkenswert banal: Weil die Schule Noten produzieren soll, zum unanfechtbaren Produzieren von Noten klare und nachvollziehbare Vergabe von Punkten erforderlich ist und zum Vergeben und Zählen von Punkten wiederum abfragbares Wissen nötig. Die Schule vermittel also, kurz gesagt, ihr Wissen schlicht, um es später abfragen zu können. Und dieses abfragbare Faktenwissen kommt isoliert und mit viel zu wenig Zusammenhang aus einem unerschöpflichen Fundus, der geschichtlichen Wirklichkeit. Es gibt ungezählte Fakten, die ich pauken und dann abfragen kann. Das sind einzelne Tropfen aus einem riesigen See. Erkenne ich den See, wenn ich mir Tropfen daraus betrachte? Weiß ich, was den Wald ausmacht, wenn ich einen Holzscheit untersuche? Wenn wir nun, und nur deshalb langweile ich mit meinem ganzen Geschreibsel, einzelene Kriterien festlegen, nach denen die Qualität von Darstellern bemessen werden soll, dann sind wir im Begriff, eben diesen Fehler zu begehen. Wir picken aus einer Unzahl von möglichen Parametern einige einzelne heraus, als ob das Ganze nur aus diesen Teilen bestehen würde. Oder wir formulieren Parameter, die so allgemein gehalten sind ("ich bemühe mich, stets nah an der historischen Wirklichkeit zu arbeiten"), dass sie bei allem vordergründigen Wohlklang beliebig und inhaltsleer werden. Wir ersetzen also ein Raster, durch das Leute fallen (Schubladendenken), lediglich durch ein anderes, durch das sie fallen. Mit kleineren Schubladen zugegebenermaßen. Ich bin also einer Diskussion zu dem Thema, das Marled angestoßen hat, nicht abgeneigt, aber ich bin eben skeptisch, dass die sich daraus ergebende Diskussion nebst möglicher Ergebnisse mit großer Wahrscheinlichkeit eben doch wieder ein neuer Aufguss des alten Tees werden wird. Sie wird, so fürchte ich, wieder oberflächlich mit wieder denselben Klischeevorstellungen gefürht werden und wieder zu denselben, altbekannten Allgemeinplätzen führen.