Ohne Frage war die römische Kirche damals ein Hort des Wissens und der Gelehrsamkeit in einer Welt, in der außerhalb der Klöster kaum ein Mensch des Lesens und Schreibens mächtig war. Christliche Herrscher konnten in einer dem beiderseitigen Nutzen dienenden Beziehung mit der Kirche zudem deren zentralisierte und zugleich weit verzweigte Infrastruktur als Grundgerüst für ihren Verwaltungsapparat nutzen und so ihrer weltlichen Macht in einem größeren Gebiet Geltung verschaffen. In diesem Punkt sehe ich auch den wesentlichen Unterschied zu der - ursprünglich heidnischen - Organisation in einer Stammesstruktur: Vom Grundgedanken her geht in der germanischen Stammesgesellschaft die Macht doch von einer relativ großen Gruppe der Bevölkerung aus: den freien Männern des Stammes, die in der gesetzgebenden und zugleich richterlichen Versammlung - dem Thing - eine Stimme hatten. Dies war fraglos weit entfernt von dem freien, gleichen und geheimen Wahlrecht, das wir heute als Grundlage einer Demokratie verstehen, und in der Praxis konnten mächtige Persönlichkeiten mit ihrer großen Anhängerschar die Entscheidungen des Thing maßgeblich beeinflussen. Demgegenüber sehe ich die zentralistisch von einem Oberhaupt ausgehende Machtstruktur der römischen Kirche mit ihrer strengen, auf Gehorsam basierenden Hirarchie - mit der Bevölkerung an deren unterem Ende - und dem Verständnis ihrer Legitimation durch niemand geringeren als Gott.
Mal abgesehen von den Thing-Versammlungen, welche sich in Skandinavien am längsten hielten, waren sich die germanisch geprägten Gesellschaften des frühmittelalterlichen Europas - unabhängig von Religion - sehr ähnlich.
Damit eröffnen sich mal wieder einige sehr spannende Fragestellung für mich, die im Spannungsfeld einer Kultur mit ursprünglich heidnischer Tradition nach Annahme des christlichen Glaubens auftauchen: In wieweit wirkten heidnische Traditionen und Vorstellungen fort und in welcher Weise veränderte christliches Gedankengut das Denken und Weltbild der Menschen? In wiefern veränderte sich dadurch das Leben der Menschen? (Geburt, Heirat, Tod, Alltag...) In wiefern unterschieden sich die damals noch heidnischen, germanischstämmigen Gesellschaften in Skandinavien von den bereits christianisierten aber ebenfalls germanischstämmigen Gesellschaften im fränkischen Reich und in England? Und wie gelang es bspw. auf Island auch nach der Christianisierung die "proto-demokratische" Gesellschaftsorganisation noch bis ins späte 17. Jahrhundert beizubehalten? Wird alles auf meiner langen Liste spannender Forschungsfragen notiert.
verglichen mit dem zu jener Zeit bereits christianisierten Westen Europas, war die gesellschaftliche Hirarchie im noch heidnischen Skandinavien weniger streng ausgeprägt
Das entspricht zwar der gängigen, romantisch verklärten Ansicht zu den "freien Heiden", ist aber keineswegs von den verfügbaren historischen Quellen ableitbar.
In wieweit es sich es sich bei dieser Vorstellung um romantische Verklärung handelt, ist für die Frage, weshalb Menschen anfangen, sich für Wikinger zu begeistern allerdings erstmal nicht von Belang.
Ich bin fraglos noch ziemlich am Anfang des Prozesses, mein Bild von den wikingerzeitlichen Skandinaviern anhand historischer Quellen zu überprüfen und ggf. zu korrigieren, wobei meine Ausgangsbasis etwa das Niveau von Jugend-Sachlichteratur haben dürfte. Aber selbst wenn sich einige Vorstellungen als "romantischer" als die nachweisbare Wirklichkeit erweisen sollten, sehe ich nicht die Gefahr, dass dies meine Faszination für die "Wikinger" und ähnliche frühmittelalterliche Kulturen schmälern könnte - ganz im Gegenteil!
Dazu habe ich grad einen tollen Podcast von Kaptorga gehört. Von Karl dem Großen zu den Ottonen oder so.
Danke für den Tipp, das klingt sehr interessant. Angesichts von so vielen interessanten Fragen und Informationsmaterialien wünsche ich mir mal wieder sehnlichst, ich könnte Informationen so schnell aufnehmen wie Data in Star Trek. ^^