Die Geissler; Ein erstes Aufbegehren gegen die Kirche ?

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Shamrock

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Die Bewegung der Geissler (die die Krönung "Karls IV" verzögerten) waren sie die erste Protestbewegung gegen das Verhalten/Gebaren der Kirche/Kirchendienern zu der damaligen Zeit (frühe 14 Jhd.) ? Wer weiss etwas(?) über dieses Thema oder kann mir Quellen nennen ? Gruss Shamrock der "Glaubwürdige" :angel1
 
Hier mal eine historische Quelle:
" Bey dieses Caroli IV Zeiten hat sich die wunderbare Sect der Geyßler hin unnd wieder in Teutschland mercken lassen. Im Jahr 1350 regierte die schröckliche Seucht der Pestilenz fast durch ganz Europam. Solche zu stillen und Gott zu versöhnen/ kamen die Geyßler auß Ungarn in teutschland/ wanderten zu einem Ort zu andern mit Processionen, Fahnen und Gesäng. Sie schlugen sich selbst mit Stricken unnd Geysseln bis auffs Blut/ hierdurch Vergebung der Sünden / und Nachlassung der Straffen/ beydes für sich selbst und andere zu verdienen. Es waren fast lauter Idioten und ungelehrte Leuthe/ ausser etlich wenigen/ unnd bestund ihre Gesellschafft auß Männern/ Weibern und Kindern. Sie hielten gewisse Stunden/ wann sie sich geysselten/ zweymal des Tags/ und einmal zu Nacht/ so wol offentlich als heimlich/ unnd hatten deswegen ihre Meister/ ohne deren Vorwissen sie nichts thun dorfften. Ihre Leiber waren uberzogen von blawen todtenmäelern und glieffertem Blut/ wegen des stetigen Schlagens/ dann sie sich mehrertheil mit Stricken/ daran harte Knöpff waren/ geysselten. Sie schalten hefftig auff die Geistlichen/ und bezüchtigten die Römische Kirche vieler Irrthumben/ die sie in 44 Articul verfasst hatten..."
zitiert aus: Gottfried,Johann Ludwig : " Historischer Chronicken sechster/ und Römischer Monarchey dritter Theil...mit geschichtsmäßigen Kupferstücken gezieret.", verlegt durch Matthaeus Merian, Frankfurt a.M. 1632, Tom. II, Fol. 243/244 ...und zur Pestwelle Mitte des 14.Jhd. schreibt die Cronica van der hilliger Stat van Coellen" , die sog. Koelhoff`sche Chronik aus dem Jahre 1499:
Anno dni. MCCCLXV
  • Anno domini . MCCCLXV . Do was eyn so kalt wynter dat der Rijn eyn gantz veirdel jairs bestanden was. Dat men up seint Pauwels dach tzo Riell over den Rijn ginck ind tzo allen iiii wechen wais groiss marck up dem ijss.
  • In dem selven jair was eyn groiss sterffde.
zitiert aus "Cronica van der hilliger Stat van Coellen" Fol. CCLXVIII, Köln 1499
 
:danke Aixlibris :thumbsup: so etwas habe ich gesucht (WOW... mit Seitenangabe :whistling: ) Gruss Shamrock der Wissensdurstige ;)
 
:D ...Der erste Text ist zwar 17.Jhd., aber ich finde er gibt sehr gut die allgemeine Meinung und Stimmung zu diesem Phänomen wieder...
 
Noch ein Nachtrag zur Flagellantenbewegung aus moderner Sicht:
Flagellanten traten während der Pest von 1348 - 1352 in sämtlichen großen Städten in Deutschland, in Flandern und in Frankreich auf und schlugen sich vor dem Publikum mit ihren Geißeln blutig, die mit eisernen Kreuzspitzen bestückt waren. Überall waren ihre wohlgeordneten Prozessionen zu sehen. In der Regel zogen 200 - 300 Flagellanten in Zweierreihen, bekleidet mit kurzen Lendenschürzen oder mit ärmellosen Sacktüchern, die sie wie ihre Hüte mit roten Kreuzen versehen hatten, bewaffnet mit ihren Peitschen, mit dem Blick gen Boden gerichtet, barfuß an den neugierigen Stadtbewohnern vorbei. Vor ihnen liefen die Anführer und Vorsänger, ausgestattet mit Kerzen und prächtigen Fahnen aus Goldstoff oder Samt. Die Kirchen läuteten anfänglich noch bei ihrem Erscheinen. In den Hallen der Gotteshäuser schlugen sich die Flagellanten die Rücken blutig, so daß diese blaufarbig entstellt aufschwollen. Das Blut lief nach unten ab oder bespritzte die nahen Wände der Kirche. Zuweilen trieben sie die eisernen Stacheln ihrer Geißeln so tief in ihr Fleisch, daß sie dieselben erst beim zweiten Versuch herausziehen konnten. Dazu schrien sie, heulten sie laut und riefen Gott um Vergebung und die Heiligen um Hilfe! Diese fanatische Bewegung fand nicht nur Zulauf bei den Armen, sondern auch reiche Herren und Damen schlossen sich ihr an. Die Flagellanten wurden von einem Laienmeister geleitet, dem sie zu Gehorsam verpflichtet waren. Sie durften sich nicht waschen noch rasieren, weder ihre Kleider wechseln noch in Betten schlafen und auch nicht ohne Erlaubnis ihres Anführers mit dem anderen Geschlecht sprechen, geschweige denn verkehren. Frauen begleiteten die männlichen Flagellanten in einem getrennten Zug. Meistens bildeten sie den Schluß einer solchen Bußprozession. Die Stadtbewohner begrüßten diese Geißler mit Ehrfurcht und boten ihnen die Gastfreundschaft an. Man tauchte seine Tücher in ihr Blut und verehrte diese dann als Reliquien, die Schutz vor der Pest gewähren sollten. Im Laufe der Zeit beanspruchten die Meister wie die Priester das Beichtrecht, erteilten die Absolution oder legten den Bürgern Bußen auf. Damit griffen sie nicht nur die Autorität der Geistlichkeit an, sondern dezimierten auch die finanziellen Einnahmen der Kirche. So verbot Papst Klemens VI. 1349 die Bewegung und ließ die Widerspenstigen als "Meister der Irrlehre" hängen oder köpfen. 1357 war diese Flagellanten-Bewegung schließlich endgültig verschwunden.
Zitiert aus: Maike Vogt-Lüerssen " Der Alltag im Mittelalter" ,Books on Demand GmbH 2006, Kap. X 6.1 P.s.: so wie die Geißler die "Plage" der braven Menschen des 14.Jhd. waren, so sind es heute die Geissens ! :D ....Rooobäääärt !!!! :groehl
 
Ist es Zufall das die Geissler "zeitgleich" mit der Pest in Europa auftreten :S oder ist die "Bewegung" der Geissler eine "Folge" der Pest (?) oder "teilen" sich die Pest und die Geissler "nur" den geschichtlichen Zeitraum? ;( Wo war der Ausgangspunkt der Geissler (die Pest kam ja aus Venedig) und wieso blieb Prag von der Pest verschont ?( Gruss Shamrock der Nachdenkliche :bahnhof
 
Die Geissler entstanden quasi parallel zur Pest. Bedenke dass die Pest in ihrer Form des 14. Jh. für die Menschen ein sehr dramatischer Moment war; zudem wurden so "alltägliche" Begebenheiten sehr rasch mit Aberglauben bzw. Religion in Verbindung gebracht - und die Pest als göttliche Strafe für ein sündiges Verhalten gesehen (vgl. Altes Testament - Moses in Ägypten mit den Plagen Gottes z.B.) "Ziel" der Geissler, wenn man es so ausdrücken kann, war es durch Buße und Geißelung sich und die Menschheit vor dieser göttlichen Strafe zu schützen. Hab mir mal den Spaß gemacht vor einigen Monaten und so ein wenig zeitgenössische Berichte rund um die 1350er Pestjahre in Ö zusammenzusuchen: http://wh1350.at/alltag-um-1350/die-pest-in-wien-13481349/ - ist zwar nicht 1:1 übernehmbar im Sinne der "das ist die einzige Wahrheit", aber ich persönlich finde doch, dass es ein wenig zumindest die unvermeidbare chaotische Situation widerspiegelt, die mit der Mitte des 14. Jh. einhergingen und dann auch verständlich macht, wieso sich so eine temporäre Geisslerbewegung auch großflächig formieren konnte. Das bedeutet nicht, dass die Geissler gern gesehen waren - sie waren eher "Sonderlinge", "Fantatisten" - und insofern auch der Kirche ein Dorn im Auge, bzw. wurden zum Teil auch aus Orten "ausgesperrt". Aber ich würde das nicht als "Auflehnung gegen die Kirche" definieren, sondern nur als eine Folge eine sehr durch die damaligen starke Verbindung der Religion mit dem Alltag der Menschen sehen.
 
Die "These" das die Bewegung der Geissler eine "Protestbewegung" gegen das zügellose Verhalten der "Kirchendiener" und dem Materiell bestimmten Streben "der Selbigen" war.:angel1 (ist wie ich finde auch ein interessanter Ansatz) Deshalb waren es auch meist die Kirchen der Ort an dem die Geissler ihr "Werk" taten. :krank01
 
Von einer ersten Protestbewqegung kann kaum die Rede sein. Es gab das ganze Mittelalter hindursch immer wieder Reformbewegungen von denen einige enorme Auswirkungen auf die Kirche hatten. Die cluniazensische Reform der Benediktiner vom 9. bis 11. Jhdt oder die der Franziskaner sind solche wiederkehrenden Phönomene, die stets die Kirchenführung kritisiert und eine Rückkehr zur ursprünglichen Botschaft der Armut fordert. Letztlich sind auch die Reformkonzile des 15. Jahrhunderts und sogar die Reformation in diese wellenartige Bewegung einfügbar. Schöne Grüße Andrej
 
Man kann sogar sagen, dass ein Großteil der ab dem 11. Jahrhundert als Häretiker und Ketzer verfolgten Personen und Gruppen sich nicht nur in theologischen Fragen gegen die Amtskirche wandten, sondern auch in Fragen nach Stand und Reichtum der Kirche und ihrer Diener. Die Grenze zwischen Reform und Häresie war ein fließende und bei polarisierenden Personen wie Franziskus von Assisi war es meiner Meinung nur nach das Glück zur richtigen Zeit am rechten Ort zu sein, das entschied, ob die Person als Heiliger oder Ketzer endete. So gesehen stimmt die These, dass die Geissler sich (auch) gegen die Verfehlungen der Amtskirche richteten - aber es war (zumindest für die informierten und gelehrten Kirchenherren) nichts Neues. Denn entgegen moderner Urteile war Kirchenkritik im ganzen Mittelalter verbreitet - nur dass eben nur seltenst die Existenz und die Aufgabe der Kirche angegriffen wurde, sondern meist nur gerade als verdorben angesehenen Ausprägungen. Und diese Kritik, gerade an materiellen Reichtum und Machtmissbrauch von Klerikern, kam so gut wie immer aus der Kirche selbst. "Die Kirche" im Mittelalter war so groß und hatte soviele Flügel, dass sie bei fast allen Dingen selbst ihr größter Kritiker war. :p
 
wennst was nettes zum Thema Kirche & Volk lesen willst: "Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor.. 1294-1324." - Emanuel Le Roy Ladurie
 
Es gab - wie soziologisch nicht ander zu erwarten - bei besitzergreifenden Gruppen immer Reform- und Revolutionsbewegungen. Spätestens mit der Einrichtung der "allgemeinen" - also katholischen - Kirche im "spät-"römischen Reich begann ein Prozess lokaler bis überregionaler Zersplitterung. Das Schisma zwischen allgemeiner und rechtgläubiger Kirche (katholisch vs. orthodox) ist bekanntlich um 1054 AD erfolgt. Spannend war natürlich, dass die G./F. zum einen dem Christentum eher unbekannte Formen von Busse aufnahmen, diese Jh. später in einer ersten "SM"-Szene Einzug fand und "heidnische" und muslimische "Vorfahren" hatte. Insofern war diese Laienbewegung - eine unter vielen. Rufe zur Bußfertigkeit und "Umkehr" waren irgendwie alltäglich - gerade weil der Volksglaube so von Aberglauben und geistiger Unmündigkeit geprägt war, dass ein Blitzeinschlag oder Bauchweh nach einem Essen schnell dazu führte, dass irgendein Sündenbock als Grund herhalten musste (zunächst natürlich: DER Jude, gerne aber eben auch DER verfressene und unmoralische Bischof [von Rom]. Ich bin der festen Überzeugung, dass so wie damals, sich die Darstellung von F. in der LH-Szene nicht durchsetzen wird, tut echt weh, die Selbstkasteiung :p
 
Spannend war natürlich, dass die G./F. zum einen dem Christentum eher unbekannte Formen von Busse aufnahmen, diese Jh. später in einer ersten "SM"-Szene Einzug fand und "heidnische" und muslimische "Vorfahren" hatte.
Mit SM hat diese Geissler-Bewegung genau gar nichts zu tun.
 
Spannend war natürlich, dass die G./F. zum einen dem Christentum eher unbekannte Formen von Busse aufnahmen, diese Jh. später in einer ersten "SM"-Szene Einzug fand und "heidnische" und muslimische "Vorfahren" hatte.
Auch ich möchte diese Aussage nicht unkommentiert lassen und neben der korrekten Aussage von Rotschopf noch folgendes ergänzen und anmerken: Was soll an einer Geisselung für einen Christen "unbekannt " sein. Die Geisselung ist eine der Martern Christi, wie wir uns ja bestimmt erinnern, und somit ist in der Heilsvorstellung des mittelalterlichen Menschen, mit dem Streben nach Rettung der eigenen Seele, eine "Imitation" der Leiden Christi aus zeitgenössischer Sicht völlig normal und nachvollziehbar. Da die Seele des Menschen beim Jüngsten Gericht nach den "guten Taten" , "gottgefälligem Leben" und nach der Fürsprache von Märtyrern gemessen wird, ist in der mittelalterlichen, vorreformatorischen Glaubenswelt eine Busse, welche an das Leiden Christi erinnert. Zwar körperlich durchaus schmerzhaft, aber von der Wertigkeit sehr hoch anzusetzen. Nicht umsonst sind, v.a. in der Gotik, gerade die Leidenswerkzeuge der Passion, in zahlreichen Kunstwerken besonders hervorgehoben. Selbst das "Wappen" der Jesuiten zeigt noch die 3 Kreuznägel. Und eine Geissel gehört nun definitiv dazu. Abgesehen davon ist eine "Selbst-Geisselung" wohl auch wesentlich angenehmer als eine "Selbst-Kreuzigung" und war, von jederman und der Ausprägung seiner Selbstdarstellungssucht, einfach zu praktizieren. Daher kann man diese Phänomen nicht 1:1 auf gewisse Praktiken unserer Zeit übertragen. Wobei aber die Geisslerbewegung wohl schon eine Gelegnheit darbot, sich von gewissen (Standes-)Zwängen zu befreien und seinen Neigungen und der Lust freien Lauf zu lassen. Glaubenstheologisch betrachtete man das Phänomen auch als " Nachfolge Christi" und die berühmteste Schrift dazu erschien, unter dem Titel "De imitatione Christi", in der Mitte des 15.Jhd. wohl aus der Feder des Mystikers Thomas von Kempen.
 
... die Soziologie erkennt sehr wohl Verbindungen zwischen zunächst oder primär religiöser und "verborgenen" Ideen. Das vielfach religiöse "Tradition" sexuelle Schichten enthält ist herrschende wissenschaftliche Meinung. Beispielsweise Phallus-Symbole, Homoerotik (David/Jonathan - Jesus/Johannes), Erotik (Hohelied). Insofern will ich hier am falschen Ort keine OT-Disskussion anheizen. Marquis de Sade bezieht sich im übrigen in einem seiner "Standartwerke" auf Fl. Der Bezug auf Symbole des Leidens Christi haben sehr wenig mit Fl. zu tun. Das Kreuz und andere Symbole hatten innerkirchlich nur wenig mit einer Forderung nach dem Nachleiden/Nachstellen zu tun. Theologisch auch eine recht "unsinnige" Forderung, da explizit Christen ausführten, dass der Messias für Ihre Sünden gestorben ist. Aufforderungen "Christus" nachzufollgen beinhalteten neutestamentlich vor allem "Werke des Geistes" etc. pp. Daher ist eine in anderen Religionen vorhandene Nachahmungs"kultur" im Christentum auch erst recht spät entstanden. Die Fl. erschienen bekanntlich im Hochmittelalter, nicht in den römischen Katakomben oder den kleinasiatischen Gemeinden nach einem Paulus-Besuch. Paulus kann noch am ehesten für "Leidenstheologie" genützt werden, wobei mir kein Pauliwort zur "freiwilligen" Verletzung einfallen mag, sondern das Leiden wegen Christus, das Ausharren unter Verfolgung, maximal das Leiden trotz Gebrechen, Krankheit gemeint war.
 
Ich sehe das eher so: Natürlich gabe es verborgene Anreize, die eine Tätigkeit als Geißler attraktiver für Einzelpersonen machte, oder sie dabei hielt. Eine gewisse "Freude am Schmerz" lässt sich nicht leugnen. Dass diese aus moderner Sicht schnell mit SM bezeichnet werden kann und heidnische/muslimische Parallelen/Vorläufer erkennbar sind, verbaut aber allzu leicht den Blick auf einen wesentlichen Umstand: Aus Sicht der Ausübenden war ihr Tun definitiv christlich und das Unterstellen heidnischer Vorbilder (die sie selbst nicht kannten) wäre für sie wohl eine tiefe Beleidigung gewesen. Ebenso wird die "Freude am Schmerz" von ihnen selbst nicht als persönliche Lust, sondern als religiöse Erhöhung (viele Visionen in der Mystik des Spätmittelalters zeigen, dass da die Grenze reichlich durchlässig war) gedeutet worden sein. Lust am Schmerz ist sicher ein Unterbereich der Bewegung, aber man sollte nicht glauben, dass die Bewegung der Deckmantel für diese Lust war. Das ist aber leider bei den meisten Leuten der modern geprägte Schluss, den man auslöst, sobald man SM und Geißler im selben Absatz nennt. Die verborgenen erotischen Schichten waren für die Zeitgenossen eben oft genug genau das: Verborgen. Und wenn man sie erkannte und sie für eigene Lust nutzte tat man gut daran das nicht öffentlich erkennbar zu machen. So gesehen sind die Aussagen von Bergthor hier nicht falsch - laufen aber Gefahr ein falsches Bild zu vermitteln. Wiederum hat Aixlibris (mal wieder) ganz recht. Die (körperliche) Imitatio Christi ist aber ein diffiziles Geschäft. Denn sie wird nie offiziell gefordert - weil dem Klerus klar ist, dass sie unsinnig, ja zerstörerisch ist. Zugleich basiert die mittelalterliche Religionspraxis zu guten Teilen auf dem Prinzip "Heil und göttliche Hilfe erhalten durch das Herstellen von (durchaus auch körperlicher) Nähe zu himmlischen Fürsprechern". Man wendet sich an den Heiligen, mit dem man am meisten gemein hat (Reliquien vor Ort, Reliquien berühren, selber Beruf, kennt Problem durch seine Marter, kommt aus selben Ort, starb an selben Ort, heißt so wie man selbst, starb am eigenen Geburtstag, usw.), der deshalb die eigenen Gebete am ehesten erhören wird und sie vor "dem Chef" vertreten wird. Die annhäherung vollzogen die Martyrer wiederum an Christus durch Glauben und letztlich Tod - was ihnen so viel Heil einbrachte, dass sie nun im Himmel sitzen, wo sie wiederum Gebete weiterleiten können. Es ist nur logisch aus besonderem religiösen Eifer oder in besonders schweren Situationen eine maximale Nähe zur höchsten greifbaren Instanz herzustellen. Denn die wird ja bei Martyrern und Bekennern immer gefeiert. Gerade die Bekenner (die natürlich letztlich auf ägyptische Eremiten und persische Dualisten zurückzuführen sind, aber das eben nur abstrakt und ohne dass es den Leuten bewusst war), die nicht während Verfolgungszeiten lebten und deswegen Christus "nur" im asketischen Lebensstil nachfolgten und zu Heiligen wurden, sind durch das Konzept "Christusnachfolge durch das Erleben des Kreuzesleidens in abgeschwächter, aber dauerhafter Form in Askese" eher Vorbilder und theologischer Angelpunkt solcher Bewegungen, als irgend etwas anderes. Aktiv das Martyrium zu suchen galt übrigens bis ins beginnende Spätmittelalter als schlimme Häresie. So gesehen waren beispielweise die Stigmata des Franziskus von Assisi ein geradezu genialer Schachzug maximale Christusnähe ohne aktive Martyriumssuche zu haben. Hat ihm ja auch den Titel Alter Christus (anderer/zweiter Christus) eingebracht. So gesehen betreiben die Geißler keine "unbekannte Form der Buße", sondern führen jahrhundertealte im Volk verinnerlichte theologische Konzepte ganz logisch weiter. Mag sein, dass diese Konzepte aus Sicht eines heutigen Theologen "recht spät" (5.-8. jh.) entstanden. Aber aus Sicht der Geißler waren sie uralt und praktisch schon immer da. Imitatio Christi mag innerkirchlich heute auf jeden Fall nicht aktiv-körperlich gesehen werden. Die religiöse Praxis im Hoch- und Spätmittelalter war aber eine andere. Unabhängig davon, was die Schrift dazu sagt. Für Belegstellen müsste man eher Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura und die Mystiker des Spätmittelalters konsultieren. Denn es bringt einen meist weiter zu versuchen Geschichte aus ihrer Zeit heraus zu begreifen.
 
Danke Heidensohn für Dein, wie immer, fundiertes und sachliches Statement. :thumbsup: In der Tat ist die Thematik sehr komplex und diffizil. Thomas von Kempen hatte ich daher als "pars pro toto" ins Spiel gebracht, weil allein der Titel seiner Schrift schon der Glaubensvorstellung seiner Zeit sehr nahe kommt. Aber letztendlich müsste man tasächlich alle Kirchenväter und Mystiker zusammen betrachten. Fakt ist jedoch, neben dem von Heidensohn bereits erwähnten, daß der Grundtenor des Glaubens und der Heilserwartung in der Liturgie bereits verankert ist: Bereits mit der Einteilung des Kirchenjahres mit dem Höhepunkt dem Osterzyklus, aber auch den 2 großen Fastenblöcken ist die Grundlage dafür gelegt, an der Passion Christ auch "aktiv" teilzuhaben. Nicht umsonst ist z.B. der Freitag der "fleischlose" Tag. Nicht umsonst wird durch das Angelusgeläut ( 3 x am Tag) spätestens seit dem 16. Jhd. an die Auferstehung, den Kreuztod und die Menschwerdung des Herren gedacht. (...Zuvor war es als Gedenken an die Passion und die Schmerzen Mariae gedacht...) Und, wie schon gesagt, die Leidenswerkzeuge Christi ( Arma Christi) gewannen ab der Gotik ( insofern darf man die Pestepidemien durchaus als ein Trigger für eine gesellschaftliche neubesinnung zur buße ansehen...) immer mehr symbolische Bedeutung. Und dazu gehören nicht nur die Geissel und die "Staupsäule", sodern auch die Lanze, die Würfel, der Essigschwamm etc..( ...diese Symbole gab es sogar in Form eines "Rosenkranzes"...) Auch die beiden Fastenblöcke sind eine Art von Selbstkasteiung. Und dabei würde man ja nun aus moderner Sicht auch nicht von psychisch bedingten Essstörungen reden.... Aber kommen wir mal noch einmal auf die Liturgie zurück: Beim Höhepunkt der Messe, der Wandlung von Brot und Wein , spricht der Priester gemäß des Missale Romanum im Kanonteil folgende Worte: "Haec quotiescumque feceritis, in mei memoriam facietis" (" Tut dies , so oft ihr es tut , zu meinem Gedächtnis :!: .") Die Passion beinflußte also immer und in allen Varianten das Leben der Menschen und es wurde durch die Liturgie immer wieder den Menschen ins Gedächtnis gerufen ! Interessant sind in diesm Zusammenhang auch die Passionspiele, die sog. "Osterspiele" Es seien hier, in zeitlicher Reihenfolge des 13., 14, und 15. Jhd., vor allem die Osterspiele von Muri, Innsbruck und das Redentiner Osterspiel gennant.
 
also, einige Eurer Aussagen zu dem theologischen Hintergrund der Fl. sind nicht ganz richtig, nicht ganz falsch. 1. Es ging in diesem Thread um eine religiöse Bewegung und die Frage, ob dies ein erstes "Aufbegehren" gegen die Kirche sei. Wir sind hier ja bekanntlich nicht in einem theologischen Seminar. Daher die richtige Antwort in aller Kürze von einigen Schreibern: Nein, es gab schon viele vorher. 2. Selbstverständlich war - gefärbt und verfälschend - im Mittelalter einiges über "Heiden" und "Mohammedaner" vor allem mündlich überliefert "bekannt", auf jeden Fall dürften "Laien" weniger von Thomas von Aquin oder den Kirchenältesten gehört haben als von den bösen Teufelsanbetern ;-) 3. Die Fl. haben icht aus heutiger Sicht, sondern offensichtlich Freude am Schmerz gehabt. Sich selbst Schmerzen zuzufügen ist eher nicht üblich. Im Bereich der Sexualität nicht unnormal, aber außerhalb (z. B. ritzen) als Störung eingruppiert. Im Bereich der Sexualität nennt man diese Bereitschaft letztendlich Masochismus. Masochismus gilt zwar vor allem als sexuelle Spielart, dem Soziologen ist natürlich nicht unbekannt, dass auch andere Spielarten von Masochismus bekannt sind: z. B. die freiwillige Unterwerfung unter ein nicht der Vernunft des Menschen entsprechendes System ;-) Ja, das kann man - insbesondere auf einige kirchliche Traditionen des "Mittelalters" bezogen - dann auch "Religion" nennen. 4. Da hier kein Geissler mehr lebt, sonst bitte melden, gehe ich davon aus, dass man diese frühe Form von christlichem Masochismus ruhig als das benennen darf, was sie nach wissenschaftlichen Maßstäben war. Wir wollen hier doch so weit wie möglich "A" sein,... und nicht ein romantisierende Form pflegen. 5. Im übrigen kommt in einigen Statements zu kurz, dass christlich "Bussbewegungen" fast durchgängig einen groben - schlimmer - mordenden Antisemitismus kannten: zwar wurde gerne auch zur "Busse" aufgerufen, aber zunächst erstmal die Juden abgeschlachtet, einer musste ja den Brunen vergiftet haben. 6. Fastenzeiten und Selbstgeißelungen sind nicht wirklich mit einander vergleichbar, aber Parallelen sind erkennbar: Es handelt sich nicht um originäre christliche Ideen, fast alle diese christlichen Traditionen sind eben erfolgreich integriert worden, um "Volk" zu gewinnen und selbstverständlich ist die eine oder andere Fastenregel auch nur mit Selbstgeißelung oder einer Esstörung erklärbar. Und wir wissen doch alle, dass Bulimie in der Tat eine längere Geschichte hat, als 30 Jahre...
 

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